Literatur

Mit dir ohne dich

von Wolfgang Hermann


152 Seiten
© 2010 Haymon Verlag, Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at
www.wolfganghermann.at
ISBN 978-3-85218-624-5



Richard Marten unterrichtete dreimal in der Woche Deutsch für Ausländer an der Universität. Auf dem Campus sah er sie zum ersten Mal - die Frau, die ihn mehr als nur faszinierte. Später traf er sie wieder, als er einen neuen Sprachkurs gab und beim Semesterabschluss kamen sie sich näher. Sehr nah sogar, denn sie heirateten noch im selben Jahr. Sie liebte seine Gedichte und motivierte ihn, einen Roman zu schreiben. Sie fühlte, dass es ein großer Roman werden würde. Schon immer wollte er Schriftsteller werden und Gioia ermutigte ihn dazu, endlich die entscheidenden Schritte zu tun. Plötzlich konnte er sich öffnen und schöpfte aus einem Ozean von Worten. Schrieb er sich in eine Sackgasse, zeigte sie ihm Wege, die er vorher nicht gesehen hatte und bereicherte ihn mit kompositorischen Vorschlägen zur Architektur seiner Texte. Sie bestärkte ihn in seinem Glauben an sich selbst, denn sie wisse, dass ein großer Erfolg auf ihn warten würde. Schließlich habe sie in ihrer brasilianischen Heimat ein Medium befragt ...

Es wurde ein Erfolg und eine der maßgebenden Veröffentlichungen der letzten Jahrzehnte. Plötzlich war er jemand und hatte einen Namen in der Welt der Literatur. Aus allen Teilen der Welt erreichten ihn Interviewanfragen und die Fernsehstationen standen Schlange. Richard Marten nahm alle Einladungen an. Auch aus den gedruckten Medien war er nicht mehr wegzudenken. Über ein Jahr zog sich der Rummel, bis es ruhiger um ihn wurde. Zu ruhig, denn während alle Welt auf den nächsten Roman wartete, erreichte ihn eine leere Stille und eine Sprachlosigkeit, die ihn lähmte. Keine einzige Zeile schien mehr machbar zu sein. Die "Inschrift auf der Haut der Welt" war für ihn nicht mehr lesbar. Worte, zu leblosen Zeilen aneinandergefügt, berührten das Leben nicht mehr. Sein schöpferischer Geist schien verflogen zu sein.

Seine Beziehung litt darunter - auch wenn es keinen offenen Streit gab. Gleichgültigkeit und Schweigen nahmen immer mehr an Raum ein und erstickten jede Kreativität. Die beiden schienen im täglichen Einerlei zu ertrinken. Wolfgang Hermann schreibt: "Es war kein Groll zwischen ihnen. Es war schlimmer." Schließlich konnte Gioia die Situation nicht mehr ertragen. Sie ging ohne ein Wort und hinterließ lediglich einen Zettel auf dem Küchentisch ...

Mit poetisch-bildgewaltiger Sprache, die sich jedoch kurz und knapp auf sich selbst und das Wesentliche reduziert, schildert Wolfgang Hermann Höhen und Tiefen aus dem Leben eines ebenso genialen wie zerbrechlichen Schriftstellers, der nach einmaligem Erfolg in Selbstmitleid verfällt und sich dem "Schicksal" willenlos ergibt. Er scheint Abgründe zu suchen und findet sie prompt. Genauso unmittelbar wie der Kühlschrank, der noch am Vorabend nichts zu sagen hatte und am nächsten Morgen immerhin ein "Wie wär's mit einem Schluck" flüsterte, fand er nach der Botschaft in der Küche am nächsten Tag eine weitere. Zufall? Der Brief auf dem Boden an der Haustür enthielt Schwergewichtiges. Den Zugang zu einer anderen Welt.

Eine Frau namens Gloria lud ihn ein, einer "großen Erfahrung" beizuwohnen. Und hierzu legte sie erst einmal einige Spielregeln fest. Es handelte sich um "Spiele" und um "Mitspieler". Hauptakteure waren sie und Paul, ihre große Liebe - Mitspieler ihre Liebhaber. Paul waren keine Kontakte zu weiteren Frauen erlaubt. Er zog Lustgewinn allein aus Zusehen, Glorias Erzählungen oder Bandaufnahmen, aber auch durch "die für ihn erregende Demütigung", wenn sich Gloria anderen hingab.

Fortan erhielt Richard Marten weitere Aufzeichnungen und somit Einblick in Glorias exzessive Sexabenteuer. Schon bald erkannte er aber ihre Besessenheit. Was er hier an "Leidenschaft" spürte, erschien ihm als Stoff für einen neuen Roman geeignet zu sein. Doch alles geriet aus den Fugen ...

Mehr noch als mit seiner Geschichte, fasziniert Wolfgang Hermann durch Sprache. Fast sind mir die zahlreichen Eindrücke und das Meer aus Gefühlen jeweils zu kurz umrissen - man möchte baden darin, sich verlieren und ertrinken. "An einem Bahnübergang senkte sich die Schranke mit einem Klimpern von so schöner Fremdheit, dass Richard im Inneren ein zweites Paar Augen schloss vor Wohlgefühl."

Und ich schließe jetzt dieses Buch, in der sicheren Gewissheit, den Atem der Welt gespürt zu haben ...

 

Thomas Lawall - März 2010

 

Für Fragen, Kritik und Anregungen steht unser Forum zur Verfügung

Home News Literatur Gedichte Kunst Philosophie Schräg Musik Film Garten Küche Gästebuch Forum Links Impressum