Literatur

Man Down

von André Pilz


276 Seiten
© 2010 Haymon Verlag
www.haymonverlag.at
www.liebeundgewalt.blogspot.com
ISBN 978-3-85218-623-8



Kai (25) kann nicht schlafen. Es ist drei Uhr, sein Rücken schmerzt, die Nachbarn feiern lautstark eine Party: "Saufen, Raufen, Fressen, Ficken, und Hartz IV bis zum Tod." Krach und Lärm ziehen sich bis in die frühen Morgenstunden und Kai hat Angst. Panische Angst. Vor allem und jedem. Er hat Angst vor sich selbst - fürchtet seine Gedanken, Träume, Gefühle und den nächsten Tag. Er hat Angst vor seinem Schuldenberg, dass man ihm Strom und Wasser abstellt und vor Selbstmordattentätern, die ihn bei  Bombenanschlägen in der U-Bahn fürchterlich verletzen könnten. Er entwickelt Todessehnsüchte, damit die Angst endlich ein Ende finden möge ...

Kai braucht dringend Hilfe, doch niemand ist da und er selbst findet keinen Antrieb, an seiner Situation wirklich etwas zu ändern. Stattdessen flüchtet er sich in den Teufelskreis von Resignation, Selbstaufgabe, diffuser Systemkritik, Alkohol, anderen Drogen und natürlich falschen Kumpels - allen voran der geistige Tiefflieger Shane. Dieser Mensch ist so dämlich, dass er mir nicht einmal leid tut. Seine Erkenntnisse und "Weisheiten" sind von einer gnadenlos-infantilen Dummheit geradezu verseucht. Der Mann besteht nur aus Irrtümern. Beispielsweise gibt es für ihn ganze zwei Sorten von Menschen. Täter und Opfer. Das wars.
Er meint auch, dass es ehrliche Arbeit heutzutage nicht mehr gibt. Die Deutschen seien gute Soldaten gewesen, wären aber heute nur noch "Pussys". Sein verkorkstes Weltbild wird nur noch durch sein katastrophales Frauenbild übertroffen. Mädchen, die z.B. nichts von ihm wollen, sind "Nazi-Schlampen". Insgesamt seien Muschis aber das großartigste Meisterwerk aller Zeiten. "Scheiß auf Mozart, scheiß auf Goethe, scheiß auf Picasso, ist doch alles nur 'n Witz gegen ne Muschi, ne feuchte Muschi von ner geilen Tussi ..."!

Kai ist nach seinem Arbeitsunfall am Boden. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ein Sturz, sechs Meter in die Tiefe, reißt ihn aus seinem Alltag ins Bodenlose. Sein Arbeitgeber zieht sich aus der Verantwortung und er findet keine weitere Anstellung mehr. Große Flexibilität, was Alternativen zu seinem Beruf als Dachdecker betrifft, zeigt er allerdings nicht. Und was seinen psychischen Zustand betrifft, scheint er ebenfalls keine Möglichkeiten wahrzunehmen, die etwas daran ändern könnten. Dumpfbacke Shane weiß aber die Lösung, denn das, was Kai jetzt unbedingt brauchen würde, wäre "ne Muschi" ...

Kai dreht sich im Kreis und driftet in Klagen und Selbstmitleid ab und dies in einer Sprache, die an differenziertes und kreatives  Denken kaum mehr erinnert: "Scheiße, ja, diese Stadt fickt dich, wenn du kein Geld hast. Und ich hatte keins. Aber hätte ich eins gehabt, hätte ich die Kleine eingeladen, auf nen Wodka-Lemon oder zwei. Und das wär mein Tag geworden. Ich schwör."
Da ist dann auch die eine oder andere Rapper-Weisheit nicht fern. Ob man glücklich ist oder leidet, wäre egal, da eh nichts für immer sei. Ob Schmerz oder Glück - Hauptsache man fühlt überhaupt etwas. Mit der Kohle wäre das ähnlich. Einer der großen Absahner der Szene bringt es auf den Punkt: "Get rich or die tryin'." Ich frage mich, ob so ein Satz überhaupt "50 Cent" wert ist ...

Leider kennt Kai nicht nur die falschen Leute, sondern leiht sich auch noch Geld von ihnen. Nun brennen bei Öcal und Ugi aber schon lange keine geistigen Lichtlein mehr. Shanes liebliche Brüder kennen folglich so etwas wie Humor gar nicht. Sie wollen nur ihr Geld zurück und das mit aller Gewalt. Da Kais Arbeitgeber "bei seiner Ehre" nicht gedenkt, den ausstehenden Lohn zu zahlen, bleibt Kai nichts anderes übrig, als die Schulden auf illegale Weise zu tilgen. Shane überredet ihn, das Geld als Drogenkurier abzuarbeiten. Da selbst diese Tätigkeit nichts Bares einbringt, haust er weiterhin in einem erbärmlichen Dreckloch, einer verkommenen Wohnung mit schimmeligen Wänden und ebensolcher Matratze, inmitten einem Berg aus Scherben, Schmutzwäsche und Flaschen aller Art.

Als Ausweg erscheint die Beziehung zu Marion, die ihn kurzzeitig aus seiner Misere zu ziehen scheint. Aber die Lebensunfähigkeit zerstört auch diesen Lichtblick, zumal Marion ein unheilvolles Geheimnis umgibt. Doch Kai schleppt ebenfalls nicht nur die unerträgliche Last der Gegenwart mit sich herum ...

André Pilz schreibt nicht um den heißen Brei herum. Er formuliert knallhart, direkt und ohne intellektuelle Umwege. Diese stehen dem Großteil seiner Figuren auch gar nicht zur Verfügung. In den versoffenen Hirnen gähnt eine Leere, die entsetzlich ist und doch den jeweiligen Realitäten entspricht. Ich würde jedoch nicht - wie im Klappentext zu lesen ist - generell von einer "verlorenen Generation in unserer Wohlstandsgesellschaft" sprechen. Dieses Klischee wirkt zu einseitig-pauschal und abgedroschen, denn keineswegs ist eine "ganze" Generation verloren. Teile jedoch schon. Mit oder ohne eigenes Verschulden. 

Man Down ist mehr als ein Münchner Sittengemälde. André Pilz hat eine emotionsbeladene, leidenschaftliche Milieustudie geschaffen, die in ihrer hoffnungslosen Art stellvertretend dafür stehen mag, wie es in anderen deutschen Großstädten, zumindest in der multiethnischen Unterschicht, abgehen mag. Die Geschichte erzählt von Menschen, die gestrauchelt sind und den Weg zurück längst verloren haben. Was ihnen bleibt ist das Hoffen und Warten auf ein Wunder ...

Verdammt gute Story ... und ein gnadenloses Stück Zeitgeschichte!

 

Thomas Lawall - Februar 2010

 

Für Fragen, Kritik und Anregungen steht unser Forum zur Verfügung

Home News Literatur Gedichte Kunst Philosophie Schräg Musik Film Garten Küche Gästebuch Forum Links Impressum