Literatur

Ludwigs Zimmer

von Alois Hotschnig


136 Seiten
Haymon Taschenbuch, Innsbruck-Wien 2011
www.haymonverlag.at/haymontb
© 2000 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
www.kiwi-verlag.de
www.aloishotschnig.com
ISBN 978-3-85218-853-9



Die Laterne für ihr Grab hatten sie noch gemeinsam gekauft. "Darin werde ich dir leuchten, von hier aus, wenn es einmal so weit ist, hat sie gesagt und gelacht." Kurt Weber erinnert sich an seine Tante Anna. Sie scheint allgegenwärtig zu sein, auch wenn sie längst gegangen ist. Daheim wäre man nur dort, "wo man einen Toten auf dem Friedhof hat", sagte sie immer. Jetzt hat Kurt Weber zwei Gräber. Auch er ist jetzt Grabbesitzer. Jedenfalls so lange, bis er an der Reihe ist. Seine Heimat in Villach sind Tante Anna und Onkel Georg - eigentlich Großonkel Georg. Doch die Toten sind ihm keine Heimat - dies scheint eher etwas zu sein, was er noch suchen und finden muss ...

Gewarnt wurde er vor dem Haus. Geerbt von seiner Tante und seinem Onkel, gehört es nun ihm, so denkt er. Doch die Nachbarin klärt ihn bereits vor der Beerdigung Annas auf, dass dieses Haus vielen gehören würde. Die Villacher wären nicht zu unterschätzen und es wäre keine gute Idee, sich hier in Landskron niederzulassen. Sogar eine eindeutige Warnung spricht sie aus, und sie redet vom Unglück seiner Vorgänger. Er könne ja nichts dafür, doch in seine eigenes würde er einziehen, wenn er tatsächlich hierbleiben würde!

Die Andeutungen einer anderen Nachbarin sind nicht weniger beunruhigend. Die Anna Reger hätte nicht wirklich ein gutes Leben gehabt. Am Ende wäre man nicht mehr an sie herangekommen. Ihren Sohn hätte sie regelmäßig geschickt, der Anna und Georg im Haus geholfen hätte, ja fast dort aufgewachsen wäre. Doch irgendwann wollte man ihn nicht mehr haben. Er wurde ausgesperrt. Und noch eine Aussage der Nachbarin trifft ins Mark: "Der Tod schleicht ums Haus herum" ...

Konkretisiert wird aber so gut wie nichts. Wer einen Kriminalroman oder gar eine Art Horrorgeschichte erwartet, ist mit "Ludwigs Zimmer" schlecht beraten. Eine platte Story aus dem Mainstreamland darf schon gar nicht erwartet werden. Hier wird keine Geschichte mit ordentlicher Einleitung, einem flüssigen Hauptteil und vielleicht einer Pointe am Schluss erzählt, sondern ein Kaleidoskop von Erinnerungen an dunkle Zeiten nach Krieg, Flucht, Widerstand und Verfolgung sowie den damit verbundenen grausamen Auswüchsen.

Aber auch hier bleibt jeweils ein dichter Schleier vor den Erinnerungsfetzen. Nicht anders ist es mit den Geschichten um Pauls Selbstmord aus Liebeskummer und jenen geheimnisvollen Ludwig, der ebenfalls dieses Haus bewohnte. Aber auch darum scheint es mir in diesem Buch hauptsächlich nicht zu gehen. Worum es überhaupt geht, mögen sich nicht wenige fragen. Aus einer anderen Sicht mag es erlaubt sein, das Vorhandensein eines unbedingt greifbaren Ansatzes ausdrücklich in Frage zu stellen. Müssen es ewig diese mehr oder weniger geradlinigen Geschichten sein, die ebenso mehr oder wenig alle gleich sind - ob sie nun einen Kriminalfall beschreiben, zeitgenössische Luxus-Lebensdramen oder den seichten Vampir- und Fantasy-Brotaufstrich für literarische Sozialhilfeempfänger?

Das Kammerspiel um Kurt Weber und sein geerbtes Haus am See ist viel mehr, als jene gut 130 Seiten im Taschenbuchformat auf den ersten Blick vorgeben. Es ist eine gewaltige Bilderflut aus Erinnerungen, Eindrücken und Lebenserfahrungen, die über jenes alte Haus und seine Mauern und Balken Zugang in aufmerksame Seelen finden. Wer pausenlos sich selbst hinterfragt und sich und unsere ganze im Grunde erbärmliche Existenz in dramatischen Monologen an gefährliche Abgründe formuliert, scheint wie jener Kurt Weber nur noch aus abenteuerlich poetischen Satzfragmenten zu bestehen und kaum noch Ruhe zu finden. "Es ist alles ein Irrtum. Irrtümlich kommst du zur Welt, die falschen Eltern, in eine Umgebung, die falsch ist, ein Irrtum, der nächste, dein Leben lang wirst du für einen gehalten, der du nicht bist, sein sollst, aber eben nicht bist." Wohl aber immer noch besser als jene, die sich nichts mehr zu sagen haben - dieses aber sehr laut tun! "Kleine Leute, ein jeder groß vor sich selbst und von den anderen belächelt, auf die Haltbarmachung von Ängsten verstehen sie sich und sind tot, abgestorben lange vor ihrer Zeit."

Unklar und durch die eigene Erfahrungswelt und die der anderen vom Kurs abgekommen, treibt Kurt durch eine Gegenwart voller Geschichten und Erinnerungen, die zu keiner Zeit schweigen. Die wahren Gründe für sein existentielles Dilemma - Geburtstage sind "vorweggenommene Sterbetage" - bleiben auf der Strecke. Der Leser darf und muss darauf verzichten. Derart losgelöst kann er mit auf eine Reise in interne Abgründe gehen, die ihn gleichsam faszinieren wie abschrecken werden. Denn sich selbst wird Kurt wohl niemals finden und wir alle uns ebenfalls nicht, denn der größte Irrtum von allen ist, "zu glauben, man hätte sich jemals erreicht oder wäre sich nahegekommen jemals".

Ein wahrlich schwerer Brocken, wie man so schön sagt. Bescheiden wird man beim Lesen und etwas leiser. Und etwas unruhig ebenfalls, richtet man den Blick auf sich selbst (soweit das eben möglich, oder auch nicht, ist!). Weglaufen geht aber auf keinen Fall, denn Alois Hotschnig glänzt mit kunstvoll gewebter Wortakrobatik und einer virtuosen Lebenswut, wie auch immer man das interpretieren möge. Als Fazit wage ich heute ein Prädikat:

Besonders wertvoll!

 

Thomas Lawall - Januar 2012

 

 

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