Literatur

Letzte Ausfahrt vor der Grenze
Erzählungen


von Irene Prugger


184 Seiten
© 2011 Haymon Verlag, Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at
ISBN 978-3-85218-699-3



Erna geht es nicht gut. Das ganze Dorf wartet auf ihr Sterben, allen voran der Herr Pfarrer. Alles läuft ab, wie es immer abläuft. Erna betrachtet die Fotos ihrer Kinder. Drei Söhne hat sie. Der älteste übernahm den Hof - wie auch das schon immer so war. Eigentlich sollten sie jetzt bei ihr sein, doch sie haben viel Arbeit. Zudem möchte Erna ihre Kinder nicht zu sehr belasten. Sie erinnert sich (auch) an jene Wiese und an den ersten Kuss vom Luis. Danach flüchtete sie, was ein großer Fehler war, denn "wenn danach nichts sein würde, war es egal, aber es war nicht egal, dass zuvor so wenig gewesen war". Diese (dritte) Geschichte heißt "Aufstehen" und sie handelt auch davon. Erna ist am Ende ihrer Tage. Vieles hat sie vergeblich gesucht, doch am Ende findet sie das Wesentliche ...

Ines hat sich verlaufen. Im Wald und in ihrer Ehe. Sie ist einfach losgegangen auf einen Streifzug, der sie hinausbringen soll aus den Fesseln ihrer täglichen Belanglosigkeiten. Soll sie Josef anrufen? Kein Netz ... aber so schlimm wird es nicht werden. Schließlich befindet sie sich nicht im weitläufigen Baumbestand Kanadas. Ohne Ziel läuft sie weiter, während vor ihren inneren Augen der Film ihrer täglichen Verrichtungen abläuft. Haushalt als großes Kino in Endlosschleife scheint mit den Bildern des Waldes zu verschmelzen. Die Ehekrise war vorprogrammiert, ja fast zwangsläufig. Man redet an der Oberfläche herum und taucht - wenn überhaupt - stets nur in seichten Gewässern herum. Und wie so oft stoppt die Macht der Gewohnheit den Ausbruch. Stilles Erdulden ist angesagt und kleine Fluchten in Gedankenparadiese. Ob sie in diesem Wald wohl sterben würde? Ein Sturm zieht auf und mit ihm überschlagen sich die Ereignisse. Plötzlich steht ein Mann vor ihr ...
"Natur" ist vielleicht das beste Beispiel, wie sich Literatur und Unterhaltung begegnen können, um ein gutes Stück Weg gemeinsam zu beschreiten. Symbolisierung trifft auf Spannungselemente und die Phantasie des Lesers gerät außer Kontrolle. Sie schafft sich Raum und verselbstständigt sich. Mehrere Handlungsstränge wären denkbar und eilen der eigentlichen Geschichte voraus! Das ist sehr bemerkenswert, aber wahrscheinlich kommt es ja doch wieder anders, oder etwa nicht ...?

Ein Buch von Irene Prugger. Ein Buch zum Schwärmen. Zeilen und Worte, die Zeiten, Erinnerungen und Bilder zum Leben erwecken. Sie sieht die kleinen Dinge des täglichen Lebens wie durch ein Vergrößerungsglas. Plötzlich gewinnen (vermeintliche) Belanglosigkeiten an Bedeutung. Hoffnungen lösen sich in Luft auf, zwischen Menschen entstehen unendliche Weiten und oft scheint es nur eine letzte Möglichkeit zu geben. Es ist mein erstes Buch von der freien Journalistin und Autorin. Viele andere hat sie geschrieben. Ich werde viel nachzuholen haben ...

"Letzte Ausfahrt vor der Grenze" beschreibt als Titel des Buches genau (und auch wieder nicht), worum es in ihren Erzählungen geht. Es sind nicht unbedingt die Geschichten, die ein paar Tage, Wochen, Jahre oder ein ganzes Leben dauern, sondern die vielen Geschichten, die ein einziger Tag dem wachsamen Beobachter zu erzählen vermag! Momente können aus Ewigkeiten bestehen. Die "letzte Ausfahrt" hätte man ja nicht nehmen müssen. Was wäre hinter der Grenze passiert oder hätte man sie überhaupt je erreicht ...?

Irene Prugger erzählt vom Ausbrechen aus den Schablonen des Alltags, vom Rückfall in alte Gewohnheiten, der Macht unsichtbarer Abhängigkeiten, von geliehener Zeit und falschem Glück, von einer Flut von Reflexionen und noch mehr Entscheidungsfreiheit. Wir haben ja immer die Wahl. Vorwärts oder rückwärts, ein paar Schritte seitwärts oder im Kreis herum vielleicht?

In ihren wunderbaren Erzählungen gibt es die unterschiedlichsten Figuren. Sie leben, erzählen und sagen unendlich viel, selbst wenn sie einmal schweigen. Es sind die Zweifler und Menschen, die hinterfragen, was und wie sie leben, die sich im selbstgeschaffenen Niemandsland aus nie Gewagtem und Gesagtem verlieren, welche bei Kaffee und Kuchen erstarren und auf gar nichts mehr warten, Menschen, die trotz physischer Kompatibilität die Liebe nicht finden, mitunter auch einmal ziemlich aufgeblasen sind, oder aus Hauptrollen Nebenrollen machen wollen und umgekehrt und dabei nicht selten scheitern. Immerwährend Suchende, im Aufbruch Befindliche, die doch eigentlich nichts anderes wollen als Halt, Geborgenheit und ein klein wenig Liebe vielleicht.

Ihre Geschichten sind melancholisch, ein Kammerkonzert der Worte in Moll, und sie sind kurz, wobei sie dennoch nicht enden! So wie auch das Leben immer weitergeht und nur für das Individuum ein mehr oder weniger klägliches Ende bereithält. Letzten Endes mag es egal sein, ob man die letzte Ausfahrt vor der Grenze nun nimmt oder nicht. Man sollte zumindest die Augen offenhalten und aufpassen, wohin man seinen Blick wendet ...

 

Thomas Lawall - Dezember 2011

 

 

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