Literatur

Kummersdorf
Erzählungen


von Peter Kapp


183 Seiten
© Edition Thaleia, St. Ingbert 2010
www.edition-thaleia.de
ISBN 978-3-924944-96-4



Valentin wäre gerne Messdiener geworden, aber sein Vater hat es ihm verboten. Eigentlich war er ein ganz normaler Junge, durchschnittlicher Schüler, mochte Fußball, spielte Schlagzeug und alles was ein 10jähriger halt so macht. Doch jetzt ist er verschwunden. Einfach so und ohne jede Spur. Hilfsmannschaften suchten den Jungen aus Kummersdorf-Gut vergeblich. Wie immer wollte er sich mit Gleichaltrigen treffen, um auf dem Gelände der ehemaligen Heeresversuchsanstalt Kummersdorf zu spielen. In der Zeitung findet man die ebenso obligatorischen wie nichtssagenden Vermutungen und Verdachtserhärtungen. Es wird wohl wieder ein Gewaltverbrechen gewesen sein.

Für die Zeitungsleute nichts Besonderes. Auf globale Verhältnisse übertragen sogar ein Massenphänomen. Ständig verschwinden Kinder, werden missbraucht, entführt, bringen sich um oder laufen einfach weg. Dementsprechend wenig motiviert ist der Reporter, der im Auftrag seiner Zeitung einen weiteren Artikel über den Vorfall schreiben soll. Was gibt es noch zu sagen, was nicht schon geschrieben wurde? Doch die nach Zerstreuung lechzende Leserschaft braucht Nahrung, jene leblose Konsumgesellschaft, die zur Kompensierung ihrer gelebten Sinnlosigkeit auf die tägliche Ration Sensationsnachrichten bitter angewiesen ist.

In einer heruntergekommenen Kneipe trifft der Reporter den 80-jährigen Lassow, der ihm eine seltsame Geschichte auftischt. Vor 70 Jahren, kurz vor dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen, sei er als 10jähriger ebenfalls verschwunden. Ein paar Wochen danach tauchte er wieder auf, und war 80 Jahre alt.

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Longin erlebt weit Seltsameres und Widersprüchlicheres. Er, der aus dem Wirrwar seiner Denkstrukturen schier keinen Ausweg mehr zu finden scheint. Er, der über sich und seine Möglichkeiten weit hinausdenkt. Weder mit der einen Entscheidung kann er leben, noch eine andere akzeptieren. Er, der sich ferngesteuert fühlt, als Spielball der jeweiligen Gegebenheiten, seiner Welt und in der Welt der anderen. Verfolgt von einer Ambivalenz seiner Befindlichkeiten fürchtet er den Verlust seiner Einsamkeit, hasst sie aber gleichzeitig.

Eines Tages findet er sich, auf ruhigen Wellen treibend, auf dem Meer wieder. Doch der Frieden währt nicht lange, denn plötzlich öffnet sich das Wasser und er wird in die Tiefe gerissen. Er sieht den Tod, doch er wacht wieder auf. Die riesige feuchte Höhle ist stockdunkel und stinkt. Ein Wal hat ihn verschluckt! Glücklicherweise dauert es nicht lange, bis er einige Kisten mit allerlei nützlichem Gerät findet. Lebensmittel sind in Hülle und Fülle vorhanden, ebenso Getränke, Kleidung, Bücher, Schreibzeug und sogar eine kleine Hausapotheke.

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Die Liebesgeschichte zwischen Maler und Taxifahrer Knut und Museumsführerin Stella, die nach dem Studium der Kunstgeschichte über den "spezifischen Ernst surrealistischen Humors" promoviert, gestaltet sich ebenso spontan wie geistreich, indem man sich über den Tod von Sokrates im Allgemeinen und "Selbstmord als letzten Akt der Selbstbestimmung" im Besonderen auseinandersetzt, sich dabei und während einem nächtlichen Streifzug durch New York immer näher kommt, und endet mit einem ziemlich gewaltigen Knalleffekt.

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Auch und besonders in der letzten Geschichte erwartet uns eine "schwerwiegende" Pointe, jedoch unter völlig anderen Vorzeichen. Die Geschichte "Das große O" ist ebenso weit hergeholt wie völlig durchgeknallt. Der Rezensent hat vor langer Zeit ebenfalls lange Jahre in außerordentlich unkonventionellen Wohngemeinschaften verbringen dürfen. Schön zu lesen, dass es auch andere Variationen, zumindest in der Phantasie, gibt! Dieses Drama lässt die Erinnerungen an meine gelebten Katastrophen dann doch in einem etwas günstigeren Licht erscheinen. Absolut lesenswert!

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Irgendwie ist hier jeder fehl am Platz. Die Hauptdarsteller wirken in ihren jeweiligen Welten wie Fremdkörper. Sie philosophieren, stellen sich selbst, alles Handeln und Sein in Frage. In den zehn Erzählungen von Peter Kapp verbergen sich weitaus mehr Geschichten. Vielleicht aber auch weitaus weniger. Es kommt auf den Standpunkt des Lesers an. Peter Knapps Sprache ist ebenso wunderbar differenziert wie abenteuerlich. Mitunter verliert man aber in diesem intellektuellen Durcheinander den klaren Blick und möchte mehr verstehen.

Man sollte für "Kummersdorf" schon einiges an Lesemut aufbringen, denn die ganze Vielfalt des Werkes passt nicht in die herkömmlichen Schubladen. Sehr persönliche Innenansichten driften unvermittelt in Milieustudien, verwandeln sich in Kriminalistisches, sprengen plötzlich jede Phantasie und landen in surrealer Umgebung oder einfach im alten Griechenland.

Was das soll, könnte man fragen. Ich sage: Warum nicht? Schraubt doch endlich mal eure Köpfe auf! Nun gut, man vermag vielleicht nicht allen Bewegungen und Fluchten folgen zu können, denn was ist noch neu und was ist wahr? Was ist real und was ist jenseits dieser Realität? Hoffnung und Glück bestehen aus Traum- und Trugbildern und existieren nur für den Moment. Hier in diesem erstaunlichen Lesebuch finden wir einige davon!

 

Thomas Lawall - Juli 2011

 

 

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