Krähentod
von Katja Bohnet
400 Seiten © 2019 Knaur Verlag www.knaur.de ISBN 978-3-426-52232-5
Eigentlich ist er ja nur ein Tourist. Eigentlich wollte er in seinem Heimatland Russland einen wohlverdienten Urlaub verbringen. Und eigentlich wäre dieser Roman ein ziemlich langweiliger geworden, wenn dieses Vorhaben ohne Zwischenfälle verlaufen wäre.
Ist es ein Zufall, dass die Gruppe um Viktor Saizew, Ermittler des Landeskriminalamts Berlin, am belebten Flughafen Domodedovo durch ebenso "zufällige" Begegnungen so rabiat getrennt wird? Mila, Viktors neunzigjährige Großmutter, deren Freund Otto Sanders, Freundin Siska, deren Tochter Trixi und Petja, Rosa Lopez' Sohn, haben zunächst nicht mitbekommen, was Viktor so unmittelbar erleben musste ...
Katja Bohnet hält nicht gerade sehr lange hinter dem Berg, indem sie nach einer albtraumhaften, einleitenden Sequenz entscheidet, mit einem "Volltreffer" zu beginnen. Schneller kann man von Null auf Hundert nicht kommen! Man wird, gemeinsam mit Hauptdarsteller Viktor, gleichsam in die Geschichte hineinkatapultiert.
Schreibtechnisch gesehen könnte man meinen, hier und da die breit gefächerten Launen der Autorin heraushören zu können. Eine Einladung zur Teilnahme am Hürdenlauf ihrer Gedankensprünge. Mal erzählt sie trocken und standesgemäß, mal schaltet sie ein paar Gänge hoch und schmettert eine herbe SUV-Breitseite auf die Matte (Applaus!), um sich dann wieder unvermittelt in eine Metaphorik hineinzusteigern, die sich in sprichwörtlichen Freudentränchen manifestiert.
Herrliche Beispiele hierfür sind (Chaosverweigerer, also Kinderlose, werden es nicht verstehen) ein Hausbesuch bei Rosa Lopez. Im Mutterschutz ist sie und trotzdem findet sie ihr Vorgesetzter Gunnar Scholz mitten im Fronteinsatz in ihrer Küche vor und stellt fest, dass hier irgendwie "alles nach Zirkus" aussieht, und dass Tatorte "im Vergleich dazu durchaus ruhige und entspannte Arbeitsplätze" sein können.
Ferner erhalten wir Kenntnis, wann Normalität zu einem "fiktiven Zustand" verkommt, weshalb Wahrheit "ein schlichtes Kleid" trägt, dass Kaffeemaschinen für Situationskomik sorgen können, und wie man es schaffen kann, seine Arbeit zu lieben, "wie andere sich an eine kaputte Beziehung klammern". Jene Seiten laden dazu ein, sie wiederholt und immer wieder zu lesen!
Böse gezeichnet, sowohl psychisch als auch physisch, kämpfen sich Rosa Lopez und Viktor Saizew durchs Leben. Jeder auf seine Art sieht sich einem unbarmherzigen Überlebenstraining ausgesetzt, welches Katja Bohnet bis zur Grenze der Unerträglichkeit ausmalt. Angesichts der Tiefe und Intensität der Charakterprofile, insbesondere auch jenem des zwielichtigen Moskauer Ermittlers Rustam Komarow, verliert man fast den roten Faden der Hauptgeschichte. Der ist auch gar nicht so wichtig. Hauptsache ist, WIE erzählt wird, was passiert. Natürlich ist die Geschichte konstruiert. Wenn auch sehr geschickt. Täuschung gelungen. Die Auflösung kann überraschen. Darf man auch erwarten. "Krähentod" hat aber wesentlich mehr zu bieten. Katja Bohnet geht nicht gerade zimperlich mit ihren Figuren um. Viktor trifft es knüppelhart und auch für Kollegin Rosa Lopez hat das Leben deftige Überraschungen parat. Geht noch eine Steigerung? Ja, geht.
Man kann gespannt sein, wie lange sich die beiden das noch gefallen lassen, derart in den Schlamassel geschrieben zu werden. Ein wüster Albtraum ist das, was Viktor durchmachen muss. Selten wurde ein Scheitern auf der ganzen Linie düsterer in Worte gemeißelt. Fast wird man mit hinabgerissen in den dunklen Strudel aus Schuldgefühlen und all den anderen Haltestellen eines Schicksals, das sich entschlossen hat, bis ganz nach unten zu fahren. Dergestalt eindringliche Zeilen mahnen zur Vorsicht. Ansteckungsgefahr!
Vielleicht gibt es aber doch noch so etwas wie Hoffnung. Ein Türchen bleibt in dieser Hinsicht am Ende offen. Gut. Hauptgeschichte erledigt. Zufriedenstellend. Aber die, weitaus interessanter und aufregender gestaltete, Geschichte von Rosa und Viktor ist nicht zu Ende. Vielleicht gibt es Fans der Reihe, welche dies noch eine ganze Ecke spannender finden, als die nächste Geschichte, die wieder als Bühne für das Lebensdrama der beiden herhalten muss.
Wie auch immer. Der dritte Roman der Reihe entwickelt einen Anspruch, dem man erst einmal gewachsen sein muss. Der behandelte Stoff dürfte anderen Autor/innen für eine mehrbändige Reihe locker ausreichen. Der Oberliga-Thriller ist wie ein Spinnennetz gewebt, aber weniger "ordentlich", eher mal kreuz und mal quer. Für die Pfadfinder unter den Krimifans. Wobei sich "Krimi", angesichts der gar nicht mal so seltenen Vehemenz im Ausdruck, richtig niedlich anhört.
Fazit: Thriller. Referenzklasse. Aus.
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