Literatur

Komm doch näher


von Lucie Whitehouse


480 Seiten
© Lucie Whitehouse 2016
Für die deutsche Ausgabe
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH
www.berlinverlag.de
ISBN 978-3-8333-1086-7



Während Kolleginnen und Kollegen den Einstieg in einen Thriller mit dem Vorschlaghammer gestalten und somit ein "wohlig-schauerndes-Nägelkauen" nicht nur auf dem Klappentext versprechen, geht Lucie Whitehouse entgegengesetzte Wege.

Der Beginn ihres "Psychothrillers" wirkt kantig und leicht unbeholfen bemüht, und wenn der Prolog sich nicht in gewissen Andeutungen verlieren würde, käme auf den ersten Seiten gar Langeweile auf. Marianne Simone Glass stürzt vom Dach ihres Hauses und bricht sich das Genick. Niemand hat es gesehen, weshalb sie erst am nächsten Tag gefunden wird. Die Polizei spricht von einem Unfall. So weit, so schlimm. Es folgen Rückblicke in Mariannes Kindheit, insbesondere in die gemeinsame Zeit mit ihrer besten Freundin Rowan.

Auf der Beerdigung werden uns zahlreiche Personen vorgestellt. Marianne hat sich als Malerin einen Namen gemacht. Eine Ausstellung in New York sollte demnächst stattfinden. Dementsprechend groß und international ist der Kreis der Anteilnehmenden. Wirklich spannend ist das nicht, doch mitunter kommt es anders, als man zunächst denkt.

Der unspektakuläre Rohbau der Geschichte erweist sich im weiteren Verlauf als notwendiges Fundament des Gesamtzusammenhangs, der vergessene Räumlichkeiten aufweist und die damit verbundenen Dramen, die eine breite Öffentlichkeit weder ahnt noch herausgefunden hat.

Rowan hat sehr früh ihre Mutter verloren. Ihr Vater stürzte sich in seine Geschäfte und mit der Freundschaft zu Marianne bekam ihr Leben eine neue Ausrichtung. Im Laufe der Jahre wurde sie zu einem Teil der Familie Glass, die ihr Liebe, Geborgenheit und Vertrauen schenkte.

So großes Vertrauen, dass ihr Mariannes Mutter und deren neuer Lebensgefährte die Verwaltung der Gemälde und die Aufsicht über das Haus anvertrauen. Ihrerseits sieht Rowan eine zusätzliche Aufgabe, indem sie sich durch das ihr entgegengebrachte Vertrauen dazu verpflichtet sieht, Mariannes Geheimnis zu bewahren.

Spätestens an diesem Punkt wendet sich das Blatt, sollte man meinen. Immerhin sind 80 Seiten gelesen, doch Lucie Whitehouse weicht auch nach weit über doppelt so viel Seiten nicht von ihrem Vorhaben ab, die Katze zu früh aus dem Sack zu lassen. Es werden weitere wichtige Personen vorgestellt und Ereignisse der Vergangenheit unter die Lupe genommen.

Besonders interessant wird es, wenn Rowan auf Personen trifft, die sie schon lange nicht mehr gesehen hat. Vor vielen Jahren hat sie mit diesen mehr oder weniger viel Zeit verbracht. Wer sich mit dem Ergebnis veränderter Perspektiven auseinandersetzen kann, kommt hier voll auf seine Kosten. "Kriminaltechnisch" bringt das erst einmal wenig, wobei hier die Betonung auf "wenig" liegt.
 
Was ist nur mit der Frau der genialen Bilder geschehen, die sich weitgehend von Feingebäck ernährte und die schon Feministin war, bevor sie das Wort buchstabieren konnte?

Erstaunlich, wie sich die Sprache der Autorin und die Charakterisierungen ihrer Figuren entwickelt. Anfangs noch verhalten und ungeschliffen wie "schlug die Stille über ihrem Kopf zusammen wie Wasser", verändert sich ihre Metaphorik dramatisch, beispielsweise dort, wo ein Dachrand plötzlich "lebendig" wird und ein unglückseliges "Kraftfeld" sich zu entwickeln scheint.

Auch die zunächst farblosen Personenbeschreibungen gewinnen an Profil und Tiefe, dort, wo Figuren zu "menschlichen Leinwänden" und  "Jazzmusiker des Gesprächs" werden oder "gemeinsame Zeit in Stücke reißen". Hinreißend jene feine Beobachtungen, die sogar ein Lächeln beobachten, "das es nicht bis zu den Augen schafft".

Fast lyrische Komponenten entwickelt Lucie Whitehouse, wenn sie Dielenbretter eines alten Hauses wie "Tasten eines ungestimmten Klaviers" klingen lässt oder im grellen Licht eines Supermarktes das Verschwinden von "Phantomen der frühen Morgenstunden" beobachtet, welche "wie Vampire von der Sonne in Asche verwandelt" werden.

Bis zur schockartig unerwarteten Wende im letzten Fünftel des Buches darf man sich zusätzlich auf ausgedehnte Spaziergänge durch die Straßen Oxfords freuen, wobei Sehenswürdigkeiten, ebenso wie handverlesene Lokalitäten, nicht zu kurz kommen. Bild- und Kunstbetrachtungen sowie ein Einblick in die Strukturen und Personen der entsprechenden Szene verdienen ebenfalls Aufmerksamkeit.

Was das alles mit Mariannes Tod zu tun hat? Wenig und doch viel. Der geneigte Mainstreamverkoster wird hier schnell verärgert aufgeben und sich wieder in die Untiefen der Massenkompatibilität flüchten. Wer die feinen Untertöne zu schätzen weiß und die Verwandlung eines Verdachts in - ja, in was wohl? - beobachten möchte, wird sich mit der Lektüre seinen biologischen Arbeitsspeicher voll und ganz ausfüllen.

"Komm doch näher" kommt auf leisen Sohlen daher. Langsam. Dann aber gewaltig.

 

Thomas Lawall - Mai 2017

 

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