Juninovember
von Sarah Kirsch
208 Seiten © 2014 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH www.dva.de ISBN 978-3-421-04636-9
Mit einer Eintragung vom 22. September 2002 endete "Märzveilchen". Sarah Kirsch skizzierte in ihren Tagebuchaufzeichnungen jenen Tag, als sie im Rahmen einer "Läsung" in Kiel aus "Islandhoch" vorgelesen hatte. Weiter berichtete sie von einem Friedhofsbesuch, "wo wir die einzigen Figuren über der Erde waren". Auch ihre immerwährende Naturverbundenheit beschäftigte sie an diesem Tag. Japananemonen galt es einzupflanzen, denn "bald kommt der Winter und fällt der Schnee. Bedeckt den Garten und alles Weh."
"Juninovember" beginnt nur einen Tag später, und doch ist so viel geschehen. Nun stammen die Zeilen aus ihrem Nachlass. Während es sich in der Vergangenheit als nahezu unbedeutender Zeitsprung darstellt, ist es für den Leser eine völlig andere Dimension. Nach dem Tod der Dichterin ist in der deutschen Lyriklandschaft nichts mehr wie es war. So ist es immer, wenn jene gehen, die nicht nur gesprochen haben, sondern auch etwas zu sagen hatten.
Der 23. September 2002 jedenfalls war der astronomische Herbstanfang. Es regnete, wie es sich gehört, doch gegen Nachmittag war "schönes Licht im Salon", wie wir erfahren, und Sarah Kirsch hat "Akwareller in Gang gesetzt".
Viel Worte hat sie nicht gemacht. Auch nicht gebraucht. Im Gegensatz dazu hat sie viel damit gesagt. Auch über den jeweiligen Satzgegenstand hinaus. Und wenn die passenden Worte fehlten oder in ihrer Schwingung nicht im Einklang mit dem Gesagten standen, erfand sie einfach neue.
Das Leben hat sie in vollen Zügen genossen. Jedenfalls wenn sie es wollte. "Ratsch und Ade!" Denn verbiegen lassen war nicht drin. Auch und besonders wenn bei einer "Läsereise" die älteren Damen in der ersten Reihe eine Diskussion anzetteln wollten. "Ohne mir!"
Kurz, aber nicht weniger treffend, sind die weiteren Aufzeichnungen vom 14. "Nerz" 2003, dem Tag, als Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung zur Beendigung des Reformstaus aufgerufen hatte. Sarah Kirsch legte alle Worte auf die zwangsläufige Goldwaage und bemängelte frech aber präzise "... nach jedem zweiten Satz sagte er -meine Damen und Herren-, das hülft aber ooch nüscht."
Die Ausflüge in das politische Alltagsgeschäft werden aber stets durch weitaus wichtigere und tiefsinnigere Betrachtungen ersetzt. Ohne jede Vorwarnung. Ein schönes Hotel ist wichtiger. Oder die Stadt, in der es steht. "Jena liegt rührend in seine Berglein versteckt."
Wir dürfen also weiter eintauchen in die kleine Welt in der großen, die Sarah Kirsch für sich und uns erschaffen hat. Mit ihrer Nähe zu den Dingen einfach alles anders sehen. Nüchtern und mit respektvollem Abstand. Vielleicht uns selbst und alles nicht so ernst nehmen. In unbekannte Höhen fliegen, aber die Landebahn nie aus den Augen verlieren.
Schön, wenn ich bei mir selbst etwas für das Fazit stehlen darf. Sarah Kirsch ist weggegangen, aber zwischen den Zeilen hört man ihr Herz schlagen. Immer noch. Mehr muss ein Buch nicht können.
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