Literatur

Jemand anders

von Franz Kabelka


232 Seiten
© 2011 HAYMON Verlag, Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at
www.franzkabelka.weebly.com
ISBN 978-3-85218-694-8



Die Lokalzeitung berichtet von für die Jahreszeit untypischen Unwettern, die in weiten Teilen Österreichs schwere Schäden angerichtet haben. In Oberösterreich wurde ein Spaziergänger von einem herabfallenden Ast getroffen und schlug mit dem Kopf auf einem Felsbrocken auf. Mit lebensgefährlichen Kopfverletzungen wurde er in die Intensivstation des Linzer Unfallkrankenhauses eingeliefert.

"Jetzt hast du's auf deine alten Tage doch noch auf die Titelseite geschafft", sagt Regina Moser zu ihrem Mann. Edgar zeigt sich weniger begeistert und kontert mit der Bemerkung, sich den betreffenden Zeitungsausschnitt einzurahmen und auf dem Klo aufhängen zu wollen.

Edgar Moser hat in der Tat Glück gehabt, und er weiß nicht so recht, wie ihm geschieht. Zunächst begreift er nicht einmal, was ihn überhaupt bei jener stürmischen Witterung auf den Föhrenbühel getrieben hat. Gewöhnlich ist allerhöchstens ein mehr oder weniger erzwungener Spaziergang mit seiner Frau Regina angesagt, aber keineswegs ein Solo-Spaziergang. Nicht bei diesem Wetter und gegen Abend schon gar nicht.

Seine Frau wiederum sieht die Dinge etwas pragmatischer. Zumindest was die Erwähnung auf dem Titelblatt betrifft. Schließlich wäre es eine gute Werbung für das Studio gewesen. Und die im Krankenhaus aufgekreuzte Reporterin hätte ruhig ein paar Bilder von ihrem bandagierten Mann machen können, wenn sie nicht von der Stationsschwester unsanft hinauskomplimentiert worden wäre. Edgar nimmt sich vor, sich für diesen Dienst bei ihr demnächst mit einer Schachtel Pralinen zu bedanken.

Oberarzt Sellner, ein wahrer Schalk vor dem Herrn, diagnostiziert ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, was nicht unüblich wäre, wenn "der Frontallappen mit einem Felsbrocken auf Kollisionskurs geht". Eine Prognose, was die entstandenen Erinnerungslücken betrifft, ist ihm jedoch nicht so ohne weiteres möglich, in Anbetracht der Tatsache, was man mit zunehmendem Alter sowieso vergisst, wäre seine retrograde Amnesie in seinen unmittelbaren Auswirkungen eher zu vernachlässigen ...

... was sich in der aktuellen Lebenssituation Edgars etwas anders darstellt. Der Expater und die Exkrankenschwester haben gemeinsam ein Fitness-Studio, das "New life", eröffnet. Halbwegs genesen muss er feststellen, dass es im Studio zwei tödliche Unfälle gegeben hat, an die er sich nicht mehr erinnern kann. Nach dem ersten Todesfall wurde ein Kamerasystem zur Überwachung eingerichtet, da es nicht selten vorkommt, dass sich Kunden in einem unbeobachteten Moment übernehmen. Dies sollte ausgeschlossen werden. Das zweite Unfallopfer ist kurz vor seinem Tod mit Edgar zusammen auf einem Video zu sehen. Auch daran hat Edgar keinerlei Erinnerung mehr ...

Mit spitzer Feder und perfekter sprachlicher Ausgewogenheit führt uns Franz Kabelka in eine Geschichte mitten aus dem Leben und gleichzeitig mitten ins Leben hinein. Kriminaltechnische Ermittlungsarbeit im herkömmlichen Sinne ist hier nicht zu erwarten - die entsprechenden Beamten samt Apparat fehlen. Man vermisst sie nicht! Edgar versucht seine Erinnerungslücken selbst auszufüllen und verknüpft sie mit seinem ehemaligen Wirkungsbereich. Das Konvikt Rosenkranz scheint die richtige Adresse für Antworten zu sein.

Das Drama um Macht und Ohnmacht, der allgegenwärtigen römisch-katholisch verordneten Schuld und den immer gleichen Opfern fordert dem Leser ständige Aufmerksamkeit ab, was allerdings durch abenteuerliche Zeitsprünge, oftmaligem Wechsel der Erzählperspektive und der verschachtelten Erzählstruktur nicht gerade erleichtert wird. Weitab vom Lesestrom des Gewöhnlichen darf aber auch nichts anderes erwartet werden. Kabelkas Lebensbetrachtungen und die enorme Charaktertiefe seiner Figuren versprechen ein ebenso ungewöhnliches wie nachhaltiges Leseerlebnis! Ungewöhnlich auch und besonders das Ende, denn dieses Buch hat ein Anliegen ...!

 

Thomas Lawall - Januar 2012

 

 

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