Literatur

Jagdzeit

von Claudia Toman


336 Seiten
© 2010 by Diana Verlag, München
www.diana-verlag.de
http://claudiatoman.blogspot.com
ISBN 978-3-453-35399-2



"Hau ab!" schnauzt sie ihr Spiegelbild an. Olivia presst sich die Fäuste auf die Lider, doch ihre Tränen kann sie damit nicht zurückdrängen. Schluchzend wirft sie sich quer aufs Bett. Die Erkenntnis, dass jede Frau gelegentlich heftigste Probleme mit ihrem optischen Erscheinungsbild hat, nützt ihr wieder einmal gar nichts. Denn war es bei ihr nicht ein Dauerzustand, trotz der zahllosen Salate als Ersatz für die Hauptmahlzeit? Schuld daran sind lediglich die Belohnungen, also Chips, Schokolade, Nüsse usw., und somit würde sich auf absehbare Zeit nichts an ihrer "Wieso-passt-diese-Größe-vierzig-Hose-nicht-Figur" ändern. Dumm nur, dass sie den "Schnüffler" und seine Warnung "Seien Sie vorsichtig mit dem, was sie essen und trinken!" völlig falsch verstanden hatte ...

Schuld an den überflüssigen Pfunden ist natürlich das Leben als Single. So jedenfalls eine Theorie von Freundin Pauline, ihrerseits ebenfalls gerne in Sachen Übergrößen unterwegs. Die obligatorischen Hauptmahlzeiten fallen weg und es wird häppchenweise vor dem Fernseher konsumiert. Leicht verliert man so den Überblick und schaufelt weit mehr hinein, als dies bei geregelter Nahrungsaufnahme der Fall wäre. Diese Lebensweise fördert aber die Probleme mit der Optik, was wiederum eine weitere Grundlage für ein fortgesetztes Singleleben bedeutet. Eine Flucht aus diesem Teufelskreis - auch "Häppchenkreis" genannt - scheint kaum möglich zu sein.

Seltsam ist dieses Dorf und sowieso die Frage, ob das mit dem "Blind Date in einem Gebirgskaff" so eine gute Idee war. Freundin Sorina ist entsetzt, zumal sie sich fragt, was Olivia überhaupt in den Bergen will. Sie würde ja schon Blasen bekommen, wenn sie "einen Wanderwegweiser nur anschauen würde"! Sorina macht sich ernsthaft Sorgen über Olivias "drei Jahrzehnte altes Großstadt-Gen". Doch der Vorschlag von Freundin Xandra ("die mit dem höchst individuellen X") ist stärker als alle Bedenken. Ein Freund ihres Bruders stammt aus einem winzigen Bergdorf in der Nähe von Salzburg. Leben will er dort nicht mehr, aber Olivia mit seinem Cousin verkuppeln. Per E-Mail. Olivia hat aber keine Lust, sich auf langwierige Briefwechsel einzulassen und entschließt sich kurzerhand, den "Kerl live anzusehen". Also macht sie sich auf nach "Kleinkaffingen in Mittelnirgendwo".

Merkwürdig ist das Dorfwirtshaus. Eine andere Herberge gibt es in W. nicht. Einladend wirkt der Name "Gifthütte" nicht gerade, dennoch ist das heruntergekommene Etablissement zu 50 % ausgebucht. Somit kann Olivia das letzte der beiden verfügbaren Zimmer beziehen (hoffentlich wird dieser Gag nicht übersehen)! Ihre neue "Fünf-Mäuse-Luxussuite" lädt insofern keinesfalls zur Entspannung oder gar längerfristigen Erholung ein, da diese über ein überaus intensives "Ablenkungsprogramm" verfügt: Hartes, quietschendes Bett, muffige Bettdecke, klopfendes Heizungsrohr, klappriges Fenster, nicht regelbare Heizung und dem Wirtshausgestank aus "Bier, Rauch und zu weich gekochtem Gulaschfleisch".
Merkwürdig ist auch der Friedhof. Im Gegensatz zum Erscheinungsbild des Dorfes, welches insgesamt recht renovierungsbedürftig scheint und durch "Abwesenheit von Farben" einen wenig einladenden Eindruck macht, scheint dieser weniger stiefmütterlich behandelt zu werden. Die Gräber sind außerordentlich gut gepflegt - "ein Paradiesgarten neben dem anderen". Man könnte damit jeden Blumenschmuckwettbewerb gewinnen. Den Verstorbenen ist insofern eine "höhere Form von Leben nach dem Tod" beschieden, als sie der Blumenpracht über ihnen als Dünger dienen. "Postmortale Ortsverschönerung ..."

So, nun ist es aber genug. Moment, eines vielleicht noch. Auf seltsamen Wegen tun sich natürlich seltsame Dinge. Hat sicher jeder schon einmal erlebt. Meistens fängt es harmlos an. Entweder ist der Akku leer oder man hat kein Netz. Selbstverständlich passiert dies nur dann, wenn man das Handy zufälligerweise einmal unglaublich dringend gebrauchen könnte! Dann kann man schon einmal die Wut kriegen. Nicht selten möchte man das Handy einfach in hohem Bogen auf Nimmerwiedersehen entsorgen. Einen neuen Weltrekord im Handyweitwurf aufstellen. Es gibt Menschen, die es dann wirklich tun. Kann schon sein, dass das sensible Gerät auf Nimmerwiedersehen verloren ist oder gegen einen festen Gegenstand schlägt und in tausend Teile zerbricht. Es könnte z.B. ein Baum sein. Seltsam wäre dann nur, wenn der Baum vor Schmerz schreien würde ...!

Warum ich das alles erzähle? Warum ich nicht endlich zur Sache komme? Warum ich nicht mehr von der Handlung verrate? Warum ich nicht mehr über die Personen berichte? Warum ich nicht mehr über die verschachtelte Erzählstruktur erzähle? Warum ich nicht mehr über die verschiedenen Perspektiven erzähle? Warum ich nicht mehr auf diesen gelungenen Genre-Mix eingehe? Warum ich nichts über die "Motzmarie" verrate? Warum ich keine weiteren Bemerkungen zum ebenso ungewöhnlichen wie originellen Ideenreichtum der österreichischen Autorin, welche ihre Kindheit und Jugend in Mittelerde, Phantasien, Märchenmond und Derry/Maine verbracht hat, erzähle? Wieso ich auf die Parallele mit dem "zweiten Buch" nicht eingehe? Weshalb ich die Vermutung, dass in diesem Dorf etwas nicht in Ordnung ist, nicht weiter ausbaue ...?

Na, weil schon genug Rezensionen für "Jagdzeit" existieren! Loblieder wurden schon genug gesungen und andere können das auch noch wesentlich besser als ich. Dennoch wollte ich mich einmal kurz zu Wort melden, da mir diese "Jagdzeit" ein außerordentlich spannendes wie vergnügliches Leseabenteuer beschert hat. Ohne jede Vorwarnung sowie informationstechnisch völlig unbelastet - also auf keinerlei Erwartungsschiene fahrend - stolperte ich in dieses wahrhaft unkonventionelle Abenteuer. Schön, dass es heute noch so etwas gibt. Und das sollte man doch weitererzählen, oder?

 

Thomas Lawall - Oktober 2010

 

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