Inflation
von Gunnar Kunz
214 Seiten © Sutton Verlag, 2011 www.sutton-belletristik.de www.gunnarkunz.de ISBN: 978-3-86680-747-1
Simon Weinstein serviert seinen beiden Besuchern Kaffee mit den Worten: "Es stört sie doch nicht, dass ich mit dem Kaffeewasser formaldehydkonservierte Leichenteile abgewaschen habe?" Formaldehyd sei wegen seiner keimtötenden Wirkung schließlich sehr gesund! Der reichlich schräge Humor des Chemikers ist ebenso bekannt wie beliebt. Dennoch bringt er es immer wieder fertig, seine Mitmenschen mit neuen Varianten zu belustigen oder zu schockieren. Dies bekommt Diana Escher, Assistentin von Max Plank, bei der Begrüßung auf sehr drastische Art und Weise zu spüren. Im letzten Moment zieht sie ihre Hand zurück, da die ausgestreckte Hand des Gerichtsmediziners gar nicht seine eigene war ...!
Berlin 1923. Simon Weinstein besitzt eines der modernsten chemischen Laboratorien des Reiches und arbeitet als Beamter der Spurensicherung. Nicht ohne Widerstände innerhalb des Polizeiapparates, denn schließlich ist er Jude! Trotzdem schaffte man es in diesem Fall, den Posten mit einem fachkundigen Chemiker zu besetzen. Naturwissenschaftler innerhalb des Polizeiapparates zu integrieren ist ein wichtiges Ziel ...
... und Simon Weinstein in seinem Element. Zu klären sind die näheren Umstände des Todes von Ulf Weber, der mit brutal eingeschlagenem Schädel in der Genshagener Heide gefunden wurde. Zunächst erfahren seine beiden Gäste, Diana Escher und Kommissar Gregor Lilienthal, eine Menge über Haare generell und über jene, die auf der Kleidung des Toten gefunden wurden. Von wem sie stammen können oder nicht und wie man sie klassifiziert und zuordnet. Ob die Haare vom Kopf oder aus anderen Regionen stammen, ob sie vielleicht gefärbt oder von einem Bart abgefallen sind. Oder von zwei Bärten vielleicht, denn es müssen zwei Männer sein, die direkt oder indirekt mit dem Tod Webers in Verbindung stehen ...
Gunnar Kunz präsentiert mit "Inflation" den dritten Fall des ungewöhnlichen Ermittlertrios aus dem Berlin der 20er Jahre - für mich der erste Fall. Mit Diana Escher, der Max Plank-Assistentin, Kommissar Gregor Lilienthal und dessen Bruder Hendrik Lilienthal, seines Zeichens Professor der Philosophie, ergeben sich sowohl interessante Ermittlungsansätze als auch Verstrickungen privater Art, da der Autor Höhen und Tiefen der handelnden Personen maßgeblich in die Handlung einfließen lässt. Aus den gänzlich unterschiedlichen Charakteren entstehen immer wieder Spannungsfelder, die mit dem eigentlichen Thema ernsthaft konkurrieren!
Höchst interessant ist allein schon die "Beziehung" von Hendrik und seiner Mitbewohnerin Diana, die eigentlich gar keine Beziehung ist. Jedenfalls nicht eine solche, die man erwartet, wenn sich ein Mann und eine Frau eine Wohnung teilen. Dieser Ansicht sind nicht nur die Mitbewohner im Haus, sondern auch Hendriks Wunschpartnerin Josephine, die nicht nachvollziehen kann, dass es sich bei dem Verhältnis der beiden um reine Freundschaft handelt.
Neben den kleinen und großen zwischenmenschlichen Katastrophen bildet der geschichtliche Rahmen eine weitere, nicht ganz alltägliche Kulisse, auch wenn ich schon einmal das Vergnügen hatte, in zwei Kriminalromanen einen Ermittler der ganz anderen Art kennenlernen zu dürfen, der im Berlin der späten 20er Jahre wirkte. Gunnar Kunz vermittelt dem Leser auf sehr anschauliche Art und Weise ein Gefühl, wie sich das Leben zu Beginn der 20er Jahre anfühlte. Wie die Menschen sich mit Entbehrungen und dem immerwährenden Hunger arrangierten, wie man anstehen musste, um ein paar Krümel Brot zu ergattern, wie man nachts auf den Feldern herumstreunte, um mit bloßen Händen nach der einen oder anderen Kartoffel zu graben, und dass es Kinder gab, die gar nichts anderes kannten als Hunger! Damals, als die Situation eskalierte, als der Preis für einen Laib Brot auf 140 Milliarden Mark kletterte ...
Ein harter Fall in harten Zeiten. 200 Seiten kann man nicht voller packen!
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