Literatur

In einer Bar unter dem Meer

von Christoph W. Bauer


232 Seiten
© Haymon Verlag, Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at
ISBN 978-3-7099-7088-1



Es ist schon verdammt ärgerlich, wenn man im achten Stock sein Gesicht vergessen hat, und dies erst in der Tiefgarage bemerkt. "Murr" hat keine Lust mehr, ins Büro zu fahren, was kein allzugroßes Problem sein dürfte. Schließlich sinken die Preise für "Mietvisagen" seit Monaten. Im nächsten Supermarkt steuert Murr zielstrebig die "Gesichtsabteilung" an. Da er sich kein neues Gesicht kaufen, sondern nur eines ausleihen möchte, begibt er sich ins "Rent-A-Face". Dort erfährt er von frisch eingetroffenen Italienern sowie einer schier unbegrenzten Auswahl an Chinesen, Vintage-Bankern, Frauenhelden, Bartträgern bis hin zum anspruchsvollen Akademiker ...

Franz ist beim Arzt. Dieser zeigt sich entsetzt, wie sein Patient die von ihm empfohlene Gewichtsreduktion umgesetzt hat. Nur Kraut und Knäckebrot zu essen, das würde gar nicht gehen, und es wäre kein Wunder, dass er Gespenster sieht. Franz ist mit anderen Dingen beschäftigt und versäumt es, sich den nächsten Termin geben zu lassen. Er schleppt sich in eine Buchhandlung, um das schon vor längerer Zeit bestellte Buch abzuholen: Ein "Michel-Katalog". Fast hätte er ihn vergessen, doch auch an diesem Tag würde er den Laden ohne seinen Katalog verlassen ...

Auch Branzer hat es nicht leicht. Der Röntgenassistent hat seinen Beruf niemals ausgeübt. Statt dessen arbeitet er als Müllmann, Hausmeister und Polizist. Doch etwas scheint nicht zu stimmen. Auch mit seinen Freunden, den "Droogs", nicht. Man trifft sich regelmäßig im Café Karat, dort wo alles funktioniert, "solange der Glaube an die Möglichkeit es erlaubt". Doch an diesem Nachmittag ist Branzer mit seinen Gedanken auf der Reise, während seine Gesprächspartner ins Unaussprechliche abdriften, um dort "aus verpassten Chancen Perspektiven zu basteln".

Christoph W. Bauer beobachtet Szenen im Alltag, die stets eine Ahnung von der Ausweglosigkeit des Individuums vermitteln, eingesperrt in selbsterschaffene Käfige und die vielen anderen, die es seit Menschengedenken gibt. Er tut dies aber in einer Sprache, die sich von Vorbehalten und engen Grenzen gänzlich befreit hat. Und wo das zur Verfügung stehende Vokabular nicht ausreicht, wird Neuartiges und Frisches erfunden.

Aufregend sind "Gewitterflüchtlinge", die sich "schauerlang" in Geschäften umschauen oder eine "simultane Anverwandlung der Differenztheorie". Und wo Humor ist, sind auch "scheidungssieche Beuteschweizerinnen" nicht weit, sowie Betrachtungen über Rom - dort, wohin alle Wege führen, weshalb man zwangsläufig "Hinz und Kunz trifft". Doch das Lachen gefriert, wenn Worte "Zukunft wittern" und sich irren. Das passiert, wenn man "aus einer Beziehung ohne Gegenwart in eine ohne Zukunft flieht".

Es sind Geschichten ohne Anfang und ohne Ende. Sie sind Bruchstücke, herausgeschnitten aus dem Leben. Wahl- und zeitlos aus einem beengenden Zusammenhang herausgegriffen, sind sie allerdings weit mehr als jene zitierten Romane mit den "an den Haaren herbeigezogenen Geschichten". Das Leben "findet außerhalb dieser Fiktionen statt" und genau das Gegenteil ist Christoph W. Bauer mit seinen Erzählungen gelungen: Momente als Blitzlichtaufnahmen einzufangen, Menschen beobachten, Leben erzählen. Die Welt ticken hören.

Oft sind es nicht die einfachsten Charaktere, die der Autor zu beobachten beliebt, aber es sind die interessantesten. Wenn wir alle so denken und empfinden würden, wären wir vielleicht (ebenfalls) längst verrückt geworden, oder wir sind längst verrückt, und haben es vor langer Zeit vergessen, es wenigstens hin und wieder zu bemerken. Oder wir sind machtlos, es zu ändern und somit in der glücklichen Lage, dem Druck und den Zwängen der "Normaliät" zu entrinnen.

Und zum Glück gibt es ja solche Bücher! Voll mit diesen Szenen, die wir vielleicht selbst schon erlebt, ihnen aber den Zutritt zum Bewusstsein verwehrt haben. Und wer kennt sie nicht, jene Menschen, die sich im Grunde fremd sind und fremd bleiben (außer wenn sie über Hunde sprechen). Man sieht sie sogar oft im Spiegel. Oder "in einer Bar unter dem Meer".       

Und wenn gar nichts und niemand mehr hilft, kann vielleicht ein Barkeeper -wie so oft- mit einer passenden Weisheit aushelfen. "Murr" hat sie nicht verstanden, doch der eine oder andere Leser vielleicht: "Nur wer seine eigene Melodie hat, darf auf die Welt pfeifen." So gesehen ist das womöglich die außergewöhnlichste Sammlung von Erzählungen, verfasst in einer ebenso außergewöhnlichen Sprache, die ich jemals gelesen habe.

 

Thomas Lawall - Dezember 2013

 

 

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