Literatur

Hier sind Drachen

von Husch Josten


160 Seiten
© Berlin Verlag
www.piper.de/berlin-verlag
ISBN 978-3-8270-1348-4



Durch eine ganze Reihe von Zufällen hat die Journalistin Caren den Anschlag auf die Türme des World Trade Centers in New York City am 11.09.2001 sowie den Anschlag auf den Boston-Marathon am 15.04.2013 überlebt.

Ihr Privatleben gestaltet sich nicht minder dramatisch, da sie sich mit einer Rolle als "Zweitfrau" zufrieden gibt. Das "Arrangement zu dritt" erlaubt ihr Treffen an bestimmten Wochentagen, sowie "alle drei Wochen, Samstag". Kontakte und Absprachen mit Adelle, Bens zweiter Geliebten, finden ebenfalls statt. Und es scheint zu funktionieren, denn schließlich soll die "Wucht der Liebe" nicht in "Bedrängnis" umschlagen, oder Leidenschaft in "Langeweile oder Pflichtbewusstsein". Praktisch auch, dass man sich, wenn man getrennte Wohnsitze hat, nicht über so profane Dinge wie Einrichtungsgegenstände oder das Geldausgeben ganz allgemein auseinandersetzen muss.

Nun sitzt sie am Flughafen Heathrow fest, nachdem sie eigentlich für eine Reportage nach Paris fliegen wollte. Einen Tag nach den Terroranschlägen in der französischen Hauptstadt, gibt es Probleme beim Einchecken. Es entsteht ein unerwarteter Freiraum und ein ebensolcher Kontakt zu einem Fremden. Caren nennt den Mann "Wittgenstein", da er sehr intensiv mit der Lektüre eines Buches des gleichnamigen Philosophen beschäftigt ist.

Nachdem er einige Textstellen laut rezitierte, spricht sie ihn an, jedoch zunächst nur in der sicheren Gewissheit, sich damit die Wartezeit etwas abzukürzen. "Nicht aus Interesse." Genau dieses entsteht aber im Laufe des Gesprächs, welches Husch Josten auf höchstem Niveau zu skizzieren weiß, was für Leserinnen und Leser nicht unbedingt ein Vorteil sein muss:

Caren interessiert sich dafür, "ob Geschichten, die noch nicht erzählt wurden, keine Geschichten sind", wobei Wittgenstein sie, im Zusammenhang mit seiner Frage "ob es einen Unmöglichkeitssinn gibt, wenn es einen Möglichkeitssinn gibt", erst zu dieser Fragestellung inspiriert hat.

Die Journalistin glaubt nicht mehr an Zufälle, wohingegen sie nicht selten nach Erklärungen für diese sucht. Wittgenstein sucht nach unerzählten Geschichten. Nicht solche, um die es sich in den meisten Geschichten dreht: "Die scheiß Liebe", sondern nach dem nicht Fassbaren und dem weniger Naheliegenden, dem, "was zwischen den Dingen liegt" und was untergehen würde, wenn man es je berühren wollte.

Ein Gespräch auf höchster Ebene, könnte ein zweiter Titel für dieses Buch sein, was gleich noch Massen weiterer Bestsellerverwöhnter sinnvollerweise abschrecken würde. Weitere Klientel vergrault die Autorin wohl mit gesellschaftskritischen Breitseiten wie die einer "pasteurisierten Zweisamkeit" und "ihren scheinheiligen Konstruktionen", auch wenn sie damit ins Schwarze trifft.

Die ganz großen Momente beschreibt Husch Josten in einem Gedankenspiel, Carens Geliebten Julien betreffend, jenem Fotografen, der nicht mit ihr leben, aber auch nicht ohne sie sein kann. Todesängste überfallen Caren regelrecht und plötzlich, und das Ungesagte würde "den Tod qualvoller gestalten, als er ohnehin sein würde". Mit Worten, die das gleiche Thema behandeln, diesmal jedoch den Tod Carens Großmutter betreffend, brilliert die Autorin insofern, als sie Carens Großvater einen Satz formulieren lässt, der ein ganzes Leben nicht treffender und bewegender beschreiben kann!

Als Kind von Traurigkeit zeichnet Husch Josten ihre Hauptdarstellerin dennoch nicht. Rückblenden in Jugend und berufliche Anfänge stellen Caren eher als wachen, neugierigen Geist dar, der sich allerdings auf einer ständigen Suche zu befinden scheint. Und dann wäre da noch das Problem der sich absenkenden Decken ...
 
Streckenweise ist der meisterhafte Dialog zwischen der Suchenden und dem Erkenntnistheoretiker ein extravagantes, wenn auch nicht leicht verdauliches, intellektuelles Abenteuer. Und wer sich verzweifelt fragen sollte, was das alles bedeuten soll, darf das gerne tun.

Eine Antwort will der Rezensent nicht geben. Höchstens eine abstrahierte, vornehm zurückhaltende vielleicht: Keine Ahnung. Macht aber nichts. Ist wie bei Wittgenstein. Alles "so schön vage".

 

Thomas Lawall - August 2017

 

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