Heute ist mitten in der Nacht
von Kerstin Preiwuß
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München 2023 www.berlinverlag.de ISBN 978-3-8270-1465-8
Der Rezensent ist keiner vom Rang eines Literaturkritikers, vielmehr einer, der sich ein paar Treppchen weiter unten angesiedelt hat. Da sich dort aber (auch) eine ganze Menge Leserinnen und Leser herumtreiben, passt das dann doch wieder. Sogenannte Leseratten sind oft der etwas leichteren Muse zugetan, aber es kann ja nicht schaden, es einmal anders zu probieren. Und genau deshalb diese "Rezension" eines Buches der literarischen Oberklasse, die sich dann folgendermaßen anhört:
Habt ihr Angst? Leidet ihr gar an chronischen Angstzuständen? Dann solltet ihr dieses Buch nicht lesen. Oder doch? Ich zähle ein paar Argumente auf, die eindeutig dafür sprechen. Ja, es ist ein Roman. Allerdings mit einem großen Aber. Eine lineare Story ist hier nicht zu erwarten. Es sind viele kleine Lebensabschnittsgeschichten und es ist eine ebenso schonungslose wie analytische Selbstbetrachtung, obwohl Kerstin Preiwuß nie darüber schreiben wollte:
"Ich hatte nie vor, über mich zu schreiben oder die Liste meines Unglücks, ..."
Und jene Liste ist lang. Kaum ist auszumachen, welches Unglück wohl das größere war. Eine Art Rangfolge wäre auch fehl am Platze, denn was mag schlimmer sein als das andere, der Tod des Vaters, des Stiefvaters, das verlorene Kind, familiäre Komplikationen oder die Angst, die "von allein" kommt?
Das läuft darauf hinaus, dass sie ihre Angst in ihre Bestandteile zerlegt:
"Etwas Energie geht jeden Tag unwillkürlich auf sie über, als stellte ich ihr jeden Morgen eine Schüssel mit Gefühlen hin, ..."
Und so folgt einer schwergewichtigen Formulierung die andere. Im Grunde könnte man das ganze Buch zitieren, was mal etwas ganz neues wäre. Geht nicht, Beispiele aber schon. Wie man Angst benennen und ihr damit ein Gesicht geben kann. Autofahren kann sie sein, Diagnose und Krankheit, Mutter, Vater, "eine böse aufgedunsene Matroschka", Corona oder eine "Monstranz", die man mit sich herumschleppt. Ja es ist sogar möglich, ihr eine eigene Grammatik zuzuordnen:
"Ich möchte, aber ich kann nicht ins Präteritum gehen, weil das Präsens mich gefangen hält, das Präsens eines noch immer nicht vorbeigegangenen Unglücks."
Ob es sich lohnt, dies alles zu lesen? In der Hoffnung, dass ein einziges Wort genügt: Ja. Klar, das Buch ist alles andere als ein sachbezogener Ratgeber, dennoch kann er unbeabsichtigt einer sein, denn wer sich traut, seine Ängste zu hinterfragen, wie sie geboren werden, sich auf Umwegen einschleichen, manchmal sich selbst erfinden, der kann vielleicht, indem er der Angst den Boden entzieht, ein Wunder erleben.
Die Autorin geht noch viel weiter, indem sie Angst regelrecht seziert. Diese Zerlegung ist anstrengend, wegen der Vielzahl an Bestandteilen aber lohnend:
"Auch Angst ist ein Gedankengang, mit dem man umgehen kann. Wenn sie sich erfüllt, ist sie nicht mehr da."
Einfach ist es wahrlich nicht, sich durch diese Gedankengebirge zu bewegen, jener sehr privaten Spurensuche, die sich manchmal wie ein Zerreden liest, jene überbordende Selbstanalyse, die sich bis ins Unendliche fortsetzen ließe, doch jeder Geist findet für sich die Wege, auch wenn sie durch unwegsames Gelände führen:
"Man nimmt das "Sich-infrage-Stellen" als Erfahrung für instabile Zeiten."
Und immer wieder sind es vermeintliche Paradoxien oder Ambivalenzen, die erst einmal zum längeren Verweilen in jenen Sätzen einladen, und die neben ihrer manchmal erschreckenden Kernaussage, letztlich doch einen Ausweg skizzieren:
"Ich bin ehrlich, ich zerstöre mir gern in Gedanken regelmäßig vorher alles selbst, damit kann nichts mehr so zerstörerisch auf mich einwirken wie ich auf mich, das eröffnet Perspektiven."
Also ihr lieben Bestsellerverschlinger, probiert es doch einfach mal. Und vergesst die Pageturnerei mal für einen Moment, denn hier wiegen wenige Zeilen so viel wie manch ein ganzes Buch. "Heute ist mitten in der Nacht" will und kann sowieso nicht in einem Rutsch "durchgelesen" werden. Preiwuß' Zeilen brauchen sehr viel Zeit und Raum, sich zu entfalten. Ihre Worte kann man nicht einfach weglesen.
Und was zieht der Rezensent für sich selbst heraus? Zu viel, um es hier aufzuschreiben. Allen Gedanken voran vielleicht die Erkenntnis, wie arm ein unreflektiertes Leben wohl ist und wie reich das andere. Das ist zwar nicht alles, aber verdammt viel.
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