Herz an Herz
von Sofie Cramer & Sven Ulrich
320 Seiten © Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg www.rororo.de www.sofie-cramer.de www.svenulrich.com ISBN 978-3-499-25665-3
Eigentlich hatte sie sich eine Kontaktsperre verordnet. Jedenfalls was die diesbezüglichen zum männlichen Teil des Planeten betreffen. Sara Becker pflegt nur noch unmittelbaren Kontakt zu ihrem Schwager ("= Neutrum"), mit dessen Familie sie unter einem Dach lebt, ihrem Vater ("= Neutrum") und natürlich zu ihrem besten Freund Fiete ("= Neutrum"), der seine Kontakte nicht im weiblichen Universum sucht und findet, sondern eher am anderen Ufer.
Sara begreift im Moment nicht, weshalb sich ausgerechnet im Zustand einer 100%igen Ablehnung des männlichen Geschlechts ein Kontakt zu ebensolchem anbahnt. In jenem tiefen Keller fühlte sie sich bisher eigentlich ganz wohl und immerhin war sie unangreifbar. Weit weg scheint die "traumatische Erfahrung mit einem wahren Musterexemplar der männlichen Gattung Arschloch" zu sein, wobei sie die aktuellen Probleme ihrer besten Freundin Melli wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Ihr Freund hat sie verlassen, da seine Frau hinter sein Doppelleben kam. Trotz aller Vorbehalte scheint Saras Weltbild aber ins Wanken zu kommen, denn ausgerechnet eine Hochzeitsfeier sollte den weiteren Verlauf ihres Lebens in andere Bahnen lenken ...! (Wobei mir die Story hier etwas unlogisch erscheint. Die gute Melli heiratet am 26. Juni, und bereits Mitte August (S. 22) wird sie schon wieder von einem - ebenfalls verheirateten - "Freund" verlassen!?)
Wenn die beste Freundin heiratet, bleibt einem nichts anderes übrig, als dieses Event zu besuchen, ob man nun will oder nicht. Sara wollte nicht, aber was tut man nicht alles für seine "Sandkastenfreundin". Selbst um das unselige Flaschenpostspielchen kam sie nicht herum. Jeder Gast durfte zwangsweise gute Wünsche auf ein Zettelchen notieren, diesen dann in "kackbraunes Altglas" geben, um diese Flaschenpost anschließend den Weiten des Meeres zur weiteren Verfügung zu überlassen. Doch manchmal kommt es völlig anders als man denkt.
Sara dachte nicht im Traum daran, dem ohnehin glücklichen Paar noch weitere Glückwünsche zu übereignen. Um diese "Albtraumhochzeit" einigermaßen zu überstehen, formulierte sie eine Art Blitzableiter, der ihre heftige Allergie gegen alles, was mit Heiraten in Zusammenhang steht, einigermaßen zu kompensieren. Mit ca. 2 Promille intus notierte sie in die Betreffzeile keineswegs hochzeitliche Gratulationen und Glückwünsche, sondern schlicht und einfach ein "SOS"! Im knapp gehaltenen Hauptteil wendet sie sich mit leicht angeschlagener Rechtschreibung an "alle angeschlagenen Flaschn", deren Leben ebenso "lehr" ist, wie ihr eigenes. Alle guten Wünsche erbittet sie für sich selbst, da sie zu den einsamsten Menschen des Universums gehören würde.
Gott sei Dank, dass sie im Eifer des Gefechts nicht vergessen hatte, ihre Adresse anzugeben. In heutigen Zeiten ein durchaus waghalsiges Experiment. Doch wie der Zufall es will, gerät die portofrei aufgegebene Sendung an den Richtigen. Berti Huber wollte sich in eine moderate Ostsee-Welle stürzen und wurde prompt vom genannten Altglas heftigst am Kopf getroffen. Einigermaßen angesäuert begutachtete Berti seinen Fund genauer und entdeckte umgehend seine Besonderheit. Ohne zu zögern verfasst er eine humorige Antwort auf das unerwartete Schreiben. Gut eine Woche später erhält er Antwort von Sara ...
Aus der harmlosen Ostsee-Welle entwickelt sich in der aufkeimenden Konversation ein mitunter ungleich heftigerer Seegang, hin und wieder sogar mit diversen Sturmböen verbunden. Im weiteren Verlauf nähern sich die ungleichen Charaktere immer weiter an und entdecken den einen oder anderen gemeinsamen Nenner. Schließlich wechselt man vom Brief zur E-Mail und trifft sich später im Chat ...
Ein Roman ausschließlich aus Briefen, Mails, Chatroom-Notizen und SMS-Nachrichten ist originell! Nicht unanstrengend, aber auch nicht unangenehm. Zeitgemäß auf jeden Fall, denn nicht wenige Beziehungen entstehen heute auf diesen Wegen, wobei der Beginn der Korrespondenz an sehr viel ältere Formen der Kommunikation erinnert. Wenn sich eine Drehbuchautorin und ein Drehbuchautor zusammensetzten, um ein Buch zu schreiben, kann nichts schiefgehen. Fast jedenfalls, denn wenn man zu sehr dem Dialog verpflichtet ist, entstehen Sätze wie "... irgendwie habe ich das Gefühl ... Ich habe das Gefühl ... Nun, ich würde mich sehr freuen, mehr von ihnen zu wissen." So spricht man, aber so drückt man sich nicht in einem Brief aus. Dennoch ist die Zusammenarbeit weitgehend gelungen, und das Modell könnte Schule machen. Zudem haben Autorin und Autor sicherlich eine strenge Rollenverteilung vorgenommen, was nicht schwer zu erraten ist.
Man sollte den Leseabend frühzeitig beginnen, denn sonst wird es spät. Man möchte nach der nächsten Antwort höchstens noch eine lesen ... und so zieht sich das den ganzen Abend bis zum Ende!
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