Literatur

Herrgottschrofen

von Marc Ritter


352 Seiten
© 2013 Piper Verlag GmbH, München
www.piper.de
ISBN 978-3-492-30109-1



Karl-Heinz "Gonzo" Hartinger gönnt sich im Garmischer Bräustüberl zwei Halbe alkoholfreies Weißbier und eine Portion Blut- und Leberwürste, bevor er schleunigst mit dem Rad nach Hause fährt. Ein wichtiger Termin steht an, der zudem noch eine ganze Reihe körperpflegende Maßnahmen erfordert. Selbst die Nasenhaare müssen weichen, denn es gilt, einen guten Eindruck bei Svetlana Ryschankawa zu machen, die er am späten Abend abholen wird.

Hartinger wartet in seinem alten Volvo auf dem Parkplatz vor der Eisstockhütte. Mit Verspätung trifft sie ein, reißt die Fahrertür auf und erschreckt ihn damit zu Tode. Die Erwartungen, die Hartinger in dieser Schrecksekunde damit verbindet, lösen sich aber schnellstens in Luft auf, zumal er von Swetlanas Anblick unmittelbar auf andere Gedanken gebracht wird. In Augenhöhe ist er praktisch gezwungen, sich mit ihrem beeindruckenden Nabelpiercing und der hautengen, cremefarbenen Schlangenlederimitathose zu beschäftigen, die nicht nur enorm tiefergelegt ist sondern "jede Kontur ihres Unterleibs nicht nur erahnen lässt".

Das Treffen besitzt durchaus eine gewisse Brisanz, da Swetlana die Freundin vom "Bagger-Toni" ist. Journalist und Lokalfotograf Hartinger nutzte sowohl die Existenz alter Kontakte als auch einen raffinierten Kunstgriff, der ihm dieses Treffen ermöglichte. Svetlana schluckte diesen Köder, wurde neugierig und die vermeintliche Chance, als "Seite-eins-Mädel" eines gewissen Massenblatts eine gute Figur zu machen, will sie sich nicht entgehen lassen.

Hartinger ahnt nichts Gutes. Und er hat einen Verdacht. Ein Tunnelbauprojekt steht an. Zunächst geht es zwar nur um die "Eröffnung der Voruntersuchung", dennoch ist das Event für Bürgermeister Meier von höchster Bedeutung, denn der Ministerpräsident wird zugegen sein. Leider fand Hartinger durch Zufall einige menschliche Knochen in einer Probebohrung, die das prestigeträchtige Treffen in Gefahr bringen. Nun sieht es so aus, als ob jemand die weiteren Bau- bzw. Vorarbeiten beschleunigen würde, um zu verhindern, dass weitere Knochenfunde getätigt werden. Es gilt herauszufinden, wer. Swetlana hat die entsprechenden Kontakte, was sich vielleicht als nützlich herausstellen könnte ...

Donnerwetter, so einen vollmundigen Kriminalroman habe ich dann doch nicht erwartet, zumal mich unlängst die Lektüre eines Romans aus anderem Hause doch reichlich langweilte. Diese eingleisigen Romane nehmen immer mehr überhand. Die auftretenden Personen sind meist nur noch Statisten in einem storyfixierten Drehbuch. Ganz anders in "Herrgottschrofen". Hier gibt es sie noch: Hauptfiguren mit Profil und einer Charaktertiefe, die ihre eigene Geschichte erzählen und in den größeren Zusammenhang stellen. Figuren wie Karl-Heinz Hartinger erzählen nicht nur eine Geschichte - sie haben auch eine!

Allein die privaten Verhältnisse des Journalisten sind von einer unkonventionellen Brisanz, die schon für sich selbst Romanpotential besitzt. Dazu kommen dann noch die beruflichen Wirren und Komplikationen, sowie der unbändige Wille des unbequemen Zeitgenossen, sich gegen alle Strömungen zu stellen und mit aller Konsequenz die eigene Linie zu fahren und durchzusetzen. Marc Ritter setzt dies in einer sprachlichen Dichte in Szene, die spannender nicht sein kann. Hierbei steht nicht unbedingt und zu jeder Zeit die eigentliche Geschichte im Vordergrund, sondern vielmehr das Beziehungsgeflecht und die entsprechenden Verstrickungen und Abhängigkeiten der Menschen untereinander.

Der Autor weiß auch den kommunalpolitischen Sumpf, metasierend bis in höchste Regierungskreise, und die daraus resultierenden korrupten Strukturen eindringlich zu schildern und auf den Punkt zu bringen. Herrlich ist es, den Interessen des Bauunternehmers und des Bürgermeisters auf der jeweiligen Ebene zu folgen, und sich die sich zwangsläufig ergebenden Kollisionen schadenfroh aus der Distanz zu beobachten. Wunderbar ist auch der Herr "Ministerpräsident", der nicht nur mit seinen Taten, sondern auch und vor allem mit "glänzender" Wortwahl punktet, und somit beim Leser die eine oder andere Erinnerung weckt!

Selbstverständlich kommt der Humor auch nicht zu kurz, hält sich aber überraschenderweise in (stilvollen) Grenzen. Insofern mag das Titelbild des Romans etwas in die Irre führen, denn allzuoft darf man eine deftige Endlosklamotte erwarten, sobald bayrische Accessoires auch nur andeutungsweise in Erscheinung treten. Den ebenso üblichen wie preiswerten Slapstick darf man in "Herrgottschrofen" aber vergeblich suchen, da hier auf einem anderen Niveau gelacht werden darf.

Wunderbar, wenn man einer "Nachtigall mit genagelten Bergstiefeln" begegnet, Zornhormone von Rezeptoren im Kleinhirn verdrängt werden, schneller Verkehr für Familien angeboten wird, oder Erinnerungen an den letzten Sommer in Garmisch-Partenkirchen wach werden, der damals an einem Mittwoch war. Natürlich darf der gehobene Sprachwitz auch etwas böse werden ...

... und die überraschenden Wendungen sowieso, wobei nicht nur die Lösungswege von den ausgetretenen Pfaden der gewöhnlichen abweichen, sonden auch das damit beschäftigte Personal. Erfreulich anders geschrieben bedeutet "Herrgottschrofen" ein ebenso erfreulich anderes Lesevergnügen!

Fazit: Vollmundig erzählte, hintergründig-mörderische Provinzposse mit Tiefgang.

 

Thomas Lawall - April 2013

 

 

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