Literatur

Hackneys Geheimnis

von Michael Wolfinger


442 Seiten
2. Auflage, 9-2009
Verlagshaus Schlosser, 86316 Friedberg
ISBN 978-3-86937-011-8



Jeder erwachsene Mensch hat eine Vergangenheit. Cathy natürlich auch - doch ihr Ehemannn William ahnt in seinen kühnsten Träumen nicht, wen er da an seiner Seite hat. In Hackney, dem doch eher beschaulichen Stadtteil Londons, wird nichts mehr so sein, wie es vorher war ...

William hatte sie nie nach ihrer Vergangenheit gefragt, und somit konnte er nicht wissen, dass Cathy, bevor sie sich in jener Pizzeria kennenlernten, ein völlig anderer Mensch war. Er weiß, dass sie in New York geboren wurde, doch ihre Eltern hat er nie kennengelernt, da sie bei einem "tragischen Unfall" ums Leben gekommen sind. Jedenfalls glaubte er das bisher immer, und er hatte auch nie den geringsten Zweifel daran, dass an dieser Geschichte irgend etwas nicht stimmen könnte. Die besonderen Ereignisse zwingen Cathy nun allerdings, die Dinge etwas zurechtzurücken. Ihr Mann kann es zunächst weder glauben noch fassen ...

Cathy eröffnet ihm, dass ihre Eltern nicht nur von einem alten englischen Adelsgeschlecht abstammten, sondern dass sie wegen ihrer "außergewöhnlichen Fähigkeiten" in der "Gesellschaft" eine besondere Stellung einnahmen und große Verantwortung trugen. Der Unfall wäre keiner gewesen, sondern kaltblütiger Mord. Ihr Vater wäre der "oberste Polizeichef" (hüstel) einer den meisten Menschen unbekannten Welt - der Welt der Zauberer - gewesen! William verdrängt diese überraschende Erkenntnis und nimmt es zunächst mit Humor. Und spätestens an dieser Stelle beweist Michael Wolfinger sein Talent für eine nicht unoriginelle Situationskomik, denn er lässt seinen Helden, für den Leser völlig unerwartet, reagieren: "Wow, ich bin begeistert! Ihr hattet einen Zirkus! Toll, das war bestimmt eine aufregende Kindheit."

Cathy reagiert ebenso prompt, zückt ihren Zauberstab, den ihr Mann erstaunlicherweise noch nie gesehen hat, und zieht nun etwas andere Saiten auf. Es gibt (wie übrigens ziemlich oft in diesem Buch) einen Knall, und das Bett schwebt in die Höhe. William, eben noch höchst vergnügt, erblasst und übergibt sich unmittelbar und mitten ins Bett. Cathy kontert salopp: "Schatz, wann hast du denn das alles gegessen? Ich dachte du wolltest abnehmen! Sieht ja furchtbar aus, kein Wunder, dass dir schlecht ist!" Schon zückt sie wieder den Zauberstab und gibt dem Laken das blendende Weiß zurück. Leider geht mir das alles irgendwie zu schnell, zudem wirken solche Stellen dann doch etwas holprig und -Verzeihung- zusammengeschraubt, wobei andere Textstellen wieder den Eindruck machen, unnötig in die Länge gezogen worden zu sein.

William wird immer klarer, dass seine Frau keinen Schabernack mit ihm treibt und dass die Sache ernster ist, als er zunächst vermutet hat. Sie erzählt weiter von ihrem Vater und dass er bis zu seinem Tod das Oberhaupt (Polizeichef?) aller Zauberer  gewesen sei. Seine Aufgabe wäre es gewesen, die Welt der Menschen und Zauberer im Gleichgewicht zu halten. Einige Herrschaften -"finstere Zauberer und boshafte Hexen"- missbrauchten ihre Fähigkeiten und mussten bekämpft werden. Der große Krieg startete 1982 und was nicht überrascht: Gut gegen Böse. Genauer gesagt: 600 Zauberer und Hexen auf der Seite der Guten und 1500 ("heidnische") Magier, Zauberer und Hexen auf der Seite der Bösen ...

William begreift immer mehr die Tragweite der Ereignisse und fragt sich, welche Gefahren ihm und seiner Familie drohen, denn ein weiters Familienmitglied ist mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet. Seine 14jährige Tochter Mia besitzt scheinbar keinerlei magischen Kräfte, doch bei seinem Sohn Tom sieht es schon etwas anders aus. Erst sechs Jahre alt verfügt er bereits über ganz erstaunliche Anlagen und ist "vermutlich einer der bedeutendsten Zauberer". Weshalb sich das Befinden des Vaters nun schon wiederholt in Brechreiz steigert, bleibt mir allerdings (wieder) unklar...

Spannung und Situationskomik halten sich in diesem Buch die Waage. Hier gelingen dem Autor ebenso originelle wie völlig überraschende Wendungen, die der Leser so nicht erwartet. Stellvertretend für viele andere Stellen mögen die schon beschriebene und eine weitere Szene gegen Ende des ersten Buchviertels stehen. Der Wirt der "Gaststätte zum goldenen Anker", im Randbezirk von Aberdeen, scheint ein Verräter zu sein. George Hunt und seine Gefährten (die Guten) Paul Green, Jake Random, Emily Witherspoon, Marie Anne Tempelton, Josephine Fox, Gunnar McLeod und John McNamara sind mehr als entsetzt, als Andrew Gavin Hastings einen schwarzen Zauberstab zückt. Die Zauberer und Hexen sind völlig überrascht, den Feind nun mitten unter ihnen zu sehen. Bevor jemand Gegenmaßnahmen ergreifen kann, spricht der Wirt einen mächtigen Zauberspruch und es knallt (natürlich). Augenblicklich geschieht das Wunder. Es handelt sich jedoch nicht um einen Angriff, sondern der Wirt hat offenbar keine besonderen Lagerbestände mehr, was edlen Hochprozentigen betrifft. Deshalb zaubert er kurzerhand einen Malt Whisky aus dem Jahre 1929 aufs Tablett. Der 80jährige Ballantine soll eine Überraschung für seine edlen Gäste sein, die sich jedoch nicht wenig erschrecken. Der Wirt entschuldigt sich prompt für seine "Einlage", denn er hat es ja nicht mit irgendjemand zu tun. Schließlich ist Hunt der beste Mann des internationalen Zauberergeheimdienstes "International Magic Secret Intelligent Service (IMSIS) - sozusagen der "James Bond der Zauberwelt" ...

Tom, William und Cathys Sohn, ist erst sechs Jahre alt, und er weiß noch nicht so recht, wie ihm geschieht. Doch auf dem Dachboden seines Elternhauses wird er entdecken, welche Kräfte ih ihm schlummern. Er schleicht sich hinauf, um die Ursache der seltsamen Geräusche zu erkunden, die er von seinem Zimmer aus gehört hatte. Eigentlich war es verboten, diesen Bereich des Hauses zu betreten, aber Tom hatte keine Ruhe  mehr und sein Forschungs- und Entdeckerdrang kennt keinerlei Grenzen. Selbst die abgeschlossene Tür ist für ihn kein Hindernis. Einen Haselnussstab in der Hand, probiert er einen Zauberspruch, der aus irgendeinem seiner vielen Bücher stammt. Mehr zum Spaß und ohne wirklich zu hoffen, dass es klappen würde ... aber es funktioniert! Die Tür ist entriegelt und jetzt hat er Zugang zu Dingen, die man immer vor ihm verborgen hatte. Hier stehen alte Kisten, große Schränke und Bücherregale mit uralten Schriften und eine verstaubte Truhe mit merkwürdigen Gravierungen. Die Inschrift kann er lesen und schon ahnt er, was sich darin befindet. Es ist ein Zauberstab und er hat die Macht, diesen zu benutzen ...!

Nun ist es aber genug, sonst gerate ich noch in Versuchung, das ganze Buch zu erzählen. Wenn man einmal damit angefangen hat, ist es schwer, damit aufzuhören. Beim Lesen erging es mir ähnlich - allerdings wirklich nur ähnlich, denn es wäre wirklich ein Segen, wenn in der nächsten Auflage vereinzelte schreibtechnische Stolpersteine, Ecken und Kanten abgehobelt und Rechtschreibfehler beseitigt wären. Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Ohne (professionelles) Lektorat geht es einfach nicht, denn nobody is perfect ... selbst Lektoren, die womöglich ein ganzes Buch zerlegen und durcheinanderwürfeln.
Eine weitere Anmerkung kann ich mir als gelernter Schriftsetzer nicht verkneifen, denn selten habe ich eine derart "gewöhnungsbedürftige" Typografie gesehen. Überlange Wörter, die automatisch in die nächste Zeile umbrochen werden, sollte man trennen und damit das unschöne Auseinandertreiben der verbliebenen Wörter bzw. riesige Wortzwischenräume vermeiden.

Unter dem Strich haben wir es dennoch mit einer sehr spannend erzählten Fantasy-Geschichte zu tun, wobei der in diesem Genre oft schmerzlich vermisste Humor in "Hackneys Geheimnis" auf keinen Fall zu kurz kommt. Allein das ist schon die halbe Miete. Unbedingt erwähnenswert ist noch die Tatsache, dass der Autor durch die angedeuteten Komplikationen kurz vor der Fertigstellung in gewaltigen Zugzwang kam. Schließlich sollte das Buch pünktlich zur Konfirmation der Tochter des Autors fertig sein! Es gibt sie noch, die wahren Väter!

So, und jetzt schaue ich schleunigst in meinen Briefkasten, denn vielleicht habe ich ja eine SMM bekommen. Ihr wisst nicht, was das ist? Na so was. Eine SMM ist eine "Secret Magic Message" ...

 

Thomas Lawall - April 2010

 

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