Gedanken zerren
von Özlem Özgül Dündar
58 Seiten Veröffentlicht im ELIF VERLAG Erste Auflage März 2018 www.elifverlag.de ISBN 978-3-946989-07-3
Gedanken zerren. Ja, das können sie. Erbarmungslos und ohne jede Rücksichtnahme. Wann sie wollen. Wie sie wollen. Sie zerren nach links, nach rechts, nach oben, nach unten, nach innen und nach außen. Freie Radikale auf der Suche nach der nächstbesten Möglichkeit, existenzielles Chaos zu verbreiten.
Diese Zustände beschreiben zu wollen ist schier nicht möglich, und doch versucht und versuchte die (ernstzunehmende) Literatur heute wie gestern, das nicht zu Definierende in Worte zu fassen, oder wie in "Gedanken zerren" - zu pressen.
Inhaltliche Kritik ist in diesem Falle schwierig, wenn überhaupt gar nicht möglich. Eher formal, zumal der Kritiker selbst, als ein "Jünger der schwarzen Kunst", dereinst die letzten Tage des Bleisatzes miterleben durfte, somit also typografisch stark vorbelastet ist. Es ging damals auch, und vor allem vielleicht, um so etwas wie ein Schriftbild. Und genau jenes ist bei "Gedanken zerren" einfach gruselig.
Ich dachte immer, die Gedanken sind frei? Schon beim Aufschlagen des Büchleins empfinde ich das Gegenteil. Der konsequent erzwungene Blocksatz wirkt wie ein Miniaturgefängnis. Die zerrenden Gedanken, die ein jeder Mensch kennen mag, jene Gedanken, die sich nach Entkommen und Freiheit sehnen, werden eingepfercht, wie in ein Korsett.
Doch damit nicht genug. Freiheit suchenden Worten wird hier und da auch noch das Wenige, was sie formal besitzen, genommen. Buchstaben fehlen, wie wenn man sie einfach gestohlen und weggeworfen hätte. Im Zusammenspiel mit der entsetzlichen Kleinschreibung und dem Fehlen jeglicher Interpunktionen wird Sprache in diesem Fall ihrer Schönheit fast vollständig beraubt.
Dieses indirektuelle Verwirrspiel ist schon optisch kaum zu ertragen. Als Experiment könnte man es durchgehen lassen, jedoch wäre ein einziges dieser Gedichte dafür mehr als genug gewesen. Weshalb dieses Schema aber für ein ganzes Buch?
Es verstecken sich in diesem Zuchthaus der Worte Gedanken, die uns wahrlich nicht fremd sind und die beim genaueren Hinsehen schon fast vertraut wirken. Wie alte Bekannte oder Freunde, manchmal aber auch wie unliebsamer Besuch. Man muss sich allerdings mit viel Phantasie dieser Zerstückelung nähern, um einen Sinn mühselig herauszufiltern. Ein Literatur- oder sonstiges Studium mag hier hilfreich sein. Dem traurigen Rest der Menschheit dürfte aber der Zugang verwehrt bleiben.
Dem allgemeinen Verfall von Sprache wird hier, selbstverständlich auf höchstem Niveau angedacht, Vorschub geleistet. Was für das eine Lager einen geistigen Überflieger darstellt, ist von anderen Standpunkten aus schlicht falsch. Ein orthografisches Desaster, ähnlich den verstümmelten Kommentaren, welche soziale Netzwerke der Menschheit tagtäglich zumuten, von jener Art Virus längst befallen.
"... ich bewege mich u meine te ile u das in richtungen die n sind in dingen die ich will w ..."
Was soll das? Das Lesen dieser Buchstabensuppe ist mühsam, unsagbar anstrengend und ärgerlich zugleich. Weshalb mit dem Brecheisen arbeiten, um neue Ausdrucksformen zu finden? Nein, das sind keine "zerrenden Gedanken" - es sind zerhackte. Ein fragmentarischer Buchstabensalat. Dem Rezensenten gehen langsam sämtliche verfügbaren Gäule durch. Bilder sausen, wild assoziierend, durch seinen Kopf: Eben waren es noch gepresste Strohballen auf der Wiese und jetzt sind es diese gewürfelten Autos, frisch aus der Schrottpresse ...
Um es einmal mit Worten Herman Van Veens (sinngemäß) zu formulieren: Was nützt es, sich nach innen immer weiter zu verfeinern, wenn man nach außen hin immer mehr versteinert? Sprache sollte nicht weiter abstrahiert werden, sollte keine Stolperfallen aufstellen und keine Qualen auferlegen, sie zu verstehen. Man könnte das alles anders formulieren. So, wie es Rose, Hilde und Sarah einst taten, vielleicht. Worte freilassen - nicht einsperren. Vielen Dank.
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