Fütter mich Erzählungen
von Cornelia Travnicek
128 Seiten Haymon Taschenbuch, Innsbruck-Wien 2017 www.haymonverlag.at © Skarabæus Verlag 2009 ISBN 978-3-7099-7876-4
"Marasmus" nennt sich eine Geschichte, in der das Gegenteil stattfindet. Eine namenlose Frau beginnt einen Dialog mit ihrem ungeborenen Kind, jenem "Ding in ihrem Bauch". Sie fängt an, Gedichte zu schreiben. "Wie das Fremde einem innewohnt."
"Wo wir sind" ist anders. Ganz anders. Isabell ist einsam und sie ist "schwierig". Sagt Thomas. Er versucht, zu ihr durchzudringen. Mit mäßigem Erfolg - während Isabell mit der "Bodenhaftung" kämpft ...
Einen anderen Kampf liefert sich "(A)nuschka" in "Eklipse". Mit ihrem Gewicht. Alles muss genau dokumentiert werden. Die Waage ist ihr ständiger Freund und Begleiter. Augenbrauen, Fußnägel, Ohrenschmalz - alles wiegt etwas. Und dann ist da noch jenes Nebenzimmer ...
Hilflosigkeit, die Suche nach Orientierung und manchmal das Grauen nehmen sich an die Hand. Geschichten, die sich einer unmittelbaren Bedeutung entziehen. Vielleicht haben die Personen, welche auf den ersten Blick nicht das Geringste oder allenfalls wenig miteinander zu tun haben, doch etwas gemeinsam. Das Glück kennen sie nicht. Sie alle scheinen in gewisser Weise auf der Suche zu sein. Ein unstillbares Verlangen eint sie, auch wenn es eher ein diffuses Wähnen ist. Was sie genau suchen, bleibt jedoch unklar. Wie das eben so ist. Oder so.
Vordergründig suchen sie sicher nach dem, was uns der Klappentext anbietet. "Hunger, Liebe, Anerkennung oder Schönheit" wirken aber angesichts der Tiefe der Erzählungen wie hilflos plakative Erklärungsmuster. In Wahrheit suchen die traurigen Protagonisten wohl so etwas wie die wahren Beweggründe für dieses, jenes und überhaupt alles, und sie wären gerne in der Lage, das zu benennen, was sie (und uns Beobachter) in schlaflosen Nächten umtreibt.
Vielleicht gibt uns das Leben permanent die falschen Antworten. Möglich wäre auch, dass wir die falschen Fragen stellen, sie "aufrollen und unsere Theorien darauf ausbreiten". Wie jene, welche die Autorin den gesunden Abstand zur Geschichte "Der Riss im Morgen" verlieren und ein Eigentor schießen ließ. Nicht jeder, der nach einem Amoklauf Betroffenheit zeigt, hat einen "überfressenen Bauch" und versteckt sich hinter Analysen "vor der eigenen Hilflosigkeit". Aber gut. Was einem so rausrutscht.
Die Art und Weise, wie Cornelia Travnicek Menschen beobachtet, detailverliebt und schonungslos offen, ist eine Gabe. Man hat sie oder man hat sie nicht. Wer sie nicht hat, ist dennoch nicht verloren, denn dazu gibt es ja Bücher wie diese! Dann nimmt man beispielsweise jene Hauthügel ebenfalls wahr, "auf deren Spitzen je ein einzelnes, fein blondes Haar" wächst, die zuckenden Augen, welche Wut "morsen", oder dieses wässrige Blau in den Augen, welches "davonschwimmen möchte".
Etwas Humor darf es aber auch sein. Allerdings wohldosiert und ohne jede peinliche Übertreibung. Wie jene Urgroßmutter, die es bedauert, keine lustigen Geschichten zu kennen. Dann erzählt sie doch eine. Oder der Versuch, Einsteins Relativitätstheorie mit etwas einfacheren Worten zu erklären.
Geschichten, die rührend sind, auch surreal und manchmal grauenerregend, raffiniert einfach erzählt und doch so kühn und wohldurchdacht und aus einem unschuldigen Blickwinkel heraus entwickelt. Ein starkes Buch. Mit ganz starkem Schluss. Geschichten, die es anderswo, so oder ähnlich, nicht gibt. Nur im wahren Leben. Vielleicht.
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