Literatur

Fünf Witwen
Erzählungen


von Evelyn Grill


168 Seiten
© 2015 Haymon Verlag Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at
ISBN 978-3-7099-7169-7



Nicht für alle bedeutet ein "Familientreffen" einen Segen. Das Gegenteil ist bei jener Namenlosen der Fall, die uns eine kurze, aber erschütternde Geschichte zu erzählen weiß. Ein Ausschnitt, der erahnen lässt, was sie erlebt, gefühlt und mitgemacht haben dürfte. Jene "Ausgewanderte", die sich eine Zusammenkunft der Familie so sehr wünscht, aber schnell erkennen muss, dass es aussichtslos ist, umgibt sie doch seit frühen Kindertagen "das Flair des Unverhältnismäßigen". Immer noch sucht sie das Haus ihrer Kindheit und nach Spuren ihrer selbst. Das Verhältnis zu ihrer Mutter ist keines mehr. "Am Telefon ist man sich näher." Das Treffen ist nicht mehr als ein "Wachsfigurenkabinett": "Was wir einander zu sagen haben, ist in den Gesprächen nicht enthalten." Doch sie beginnt sich zu rächen für all das "Unterlassene, Entbehrte, Vermisste". Jahrzehnte hat es gedauert, bis sie sich das "Uneingebrachte" zurückholt ...

Hugo und Vera sind glücklich. Das junge Paar hat ehrgeizige Pläne, bis ein Kinderwunsch das instabile Fundament ins Wanken bringt. Hugo plant und baut an seiner Karriere, die einen Platz für Kinder nicht kennt. Doch es kommt, wie es kommen muss, und die erste handfeste Auseinandersetzung stört die bis dahin glückliche Ehe. Da nutzten weder Hugos rote Rosen noch seine Zärtlichkeiten als Dank und zur Belohnung nach dem vollzogenen "Eingriff". Diese Wunden sollten nie mehr heilen ...

Während Evelyn Grill "Familientreffen" und "Das Wunschkind" im Klang ihrer sehr eigen vorgetragenen Aussichtslosigkeit hält und Leserinnen und Leser an der Gnadenlosigkeit ihrer Betrachtungen mitleiden und an zwischenmenschlichen Abgründen knapp vorbeiführt, hält sie in anderen Geschichten grundsätzlich andere, fast etwas schräge Maßstäbe bereit. In jeder Hinsicht außergewöhnlich ist ihre Figur des Erwin in "Stillleben". Jener Erwin, der seine Liebste einst vor einem Museum kennenlernte, indem er, ebenso wie sie, auf vereisten Pflastersteinen ausrutschte, und sie sich zwangsweise gegenseitig in die Arme fielen. Eine innige Verbindung entstand und alles könnte so schön sein, wenn da nicht jenes Bild von Alexander Kanoldt wäre. Das mit dem Gummibaum, dem roten Tuch, einem Krug und der achteckigen Dose mit Schraubverschluss ...

Wie Evelyn Grill ihre Beobachtungen in Worte formuliert, ist schon eine Liga für sich. Sie erscheinen wie mit einer Lupe freigelegt, die ohne jede Gnade selbst feinste zwischenmenschliche Risse und Unebenheiten entdeckt, und werden anschließend mit messerscharfer Feder ins Papier gemeißelt. Dabei tanzt die Autorin um Abgründe herum und scheut dieses Risiko nicht. Wie sonst könnte sie uns von einem ganz besonderen Beziehungsgeflecht erzählen, einer "mystischen Schwangerschaft", von "alten Menschen in dekorativer Gebrechlichkeit" oder von einer "verwaschenen Konsonantenbewältigung".

Und wer meinen sollte, dass es schräger nicht geht, wird mit jeder weiteren Geschichte eines Besseren belehrt. Gleich zu Beginn von "Der Wirkliche Hofrat" bleibt einem bereits das Lachen im Halse stecken, und bei der sich anschließenden perfiden Rache gleich noch einmal.
Weiter geht es mit Karl, der immer das gleiche Buch liest. Doch das ist nicht die einzige Besonderheit in "Rosen-Zeit", denn da wäre noch die Sache mit der vorgewärmten Windel.
"Kindheitshimmel" beschreibt wieder die Suche nach Bildern aus der Kindheit. Sie stimmen mit den heutigen nicht mehr überein. Es bleiben nur Erinnerungen, die immer mehr verblassen und in einem bitteren Fazit enden.

Auch wenn es unsichtbar unter der Oberfläche brodelt, Evelyn Grill entgeht nichts, und sie hat gar kein schlechtes Gewissen, Leserinnen und Lesern so ganz nebenbei auch noch einen Spiegel vor das oftmals peinlich berührte oder zutiefst betroffene Gesicht zu halten. Doch wie im wahren Leben sind wir es ja gewohnt, das schwelend Unausgesprochene im Zaum zu halten, und somit kann es auch ungeheuer spaßig sein, sich an der vermeintlich spießigen Verlogenheit anderer zu erfreuen.

Mit literarischer Axt schlägt Evelyn Grill zwischenmenschliches Kleinholz. Ein sehr ambivalentes Lesevergnügen. Nicht selten möchte man das Buch unauffällig weglegen, doch es gelingt nicht.

 

Thomas Lawall - Juli 2015

 

 

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