Literatur

Everlasting
Der Mann, der aus der Zeit fiel


von Holly-Jane Rahlens


432 Seiten
© 2012 by Rowohlt Verlag GmbH,
Reinbeck bei Hamburg
www.rororo.de
www.holly-jane-rahlens.com/home
ISBN 978-3-8052-5016-0



Vor fast 130 Jahren gab es die vorerst letzte Entdeckung einer deutschen Handschrift. Amerikaner fanden im Jahr 2136 in einem abrissreifen Gebäude eine Holztruhe. Im Inneren fanden sie eine Stahlkassette, die einen ganzen Stapel handschriftlich verfasster Seiten enthielt. Schnell identifizierten Experten für "tote Sprachen" das in Sütterlin geschriebene Manuskript als das Original von Thomas Manns Buddenbrocks, weshalb man es der Europäischen Bibliothek Greifswald, dem Archiv für tote Sprachen, übereignete.

Während es sich bei diesem Fund um ein echtes "Millenium-Mirakel" handelte, scheint Finn Nordstrom weniger Glück zu haben. Als Übersetzer für Standardmandarin und der toten Sprache Deutsch ins Englische und als hochqualifizierter Historiker für die Alltagskultur der Jahre 1950-2018 fühlt er sich absolut unterfordert. Vor vier Jahren wurden in 50 Meter Tiefe Metalaktenschränke gefunden, die randvoll mit Geschäftsberichten gefüllt waren. Man grub im Jahr 2260 an der Stelle, wo einst die Zentrale der Deutschen Bank in Frankfurt gestanden hatte. Den "Großen Feuersturm von 2050" überstanden die Dokumente wie durch ein Wunder. Die "Deutsche Pest" überstand das Feuer glücklicherweise nicht ... und leider die gesamte Kultur Europas ebenfalls nicht!

Nun darf sich Finn mit der "Aufstellung der im Konzern erfassten Erträge und Aufwendungen für das Quartal 2017" befassen. Die Unterlagen wurden per Computer übersetzt, müssen jedoch danach auf Interpunktionsfehler geprüft werden. Finn Nordstrom ist nicht ausgelastet, denn reines Korrekturlesen sieht er nicht als seine Hauptaufgabe. Langeweile überfällt ihn, doch das wird sich ändern ...

Rouge, Ex-Partnerin und Wohngenossin, sieht das anders, denn nicht wenige Stimmen definieren die Berichte als Weltkulturschatz. Doch sie hat einen weiteren zu bieten! Einen kleinen wasserdichten Koffer, den man auf dem Grund des Saaler Boddens bei Wustrow gefunden hat und der in sechs Meter Tiefe offenbar 200 Jahre dort gelegen hat. Kein geringerer als der Direktor der Europäischen Bibliothek würde seinen Anruf erwarten, denn man habe ihn als Übersetzer der in dem Koffer gefundenen deutschen Handschrift auserwählt!

Für das bevorstehende "Holocasting" räumt Finn das Familienzimmer auf. Schließlich sollte man für einen persönlichen Besuch von Dr. Rirkrit Sriwanichpoom, auch "Doc-Doc" genannt, entsprechende Vorkehrungen treffen auch wenn es sich nur um ein Hologramm handelt. Das Treffen auf der 3D-Bildfläche gestaltet sich alles andere als uninteressant, denn Doc-Doc verrät ihm erste Details, bis er schließlich zur Sache kommt. Das Dokument, welches ihm heute als "Tru-Copy" ausgehändigt wird, stammt aus dem Jahr 2003 und wurde von einem Teenager verfasst. Zunächst kann Finn wenig mit dem Dokument anfangen und mit der Aufmachung schon gar nicht. Der Umschlag scheint aus Vinyl zu sein und ist mit allerlei Herzen, Blumen und Schmetterlingen bedruckt. Zudem ist der Umschlag mit einem primitiven Schloss ausgestattet, in dem ein winziger Schlüssel steckt.

Weil Finn zunächst mit dem seltsamen Dokument nichts anfangen kann, klärt ihn der Direktor auf. Es würde sich um ein Tagebuch handeln. Finn ist enttäuscht. Erst recht, als er erfährt, dass die Verfasserin des Tagebuchs ein dreizehnjähriges Mädchen gewesen sein soll. Wohl keine große Literatur und alles andere als ein "Millenium-Mirakel", denkt sich Finn ... und er irrt sich gewaltig. Was er vorschnell als vermeintlich naive Zeilen einer Pupertierenden abwertet, entwickelt eine ungeahnte Dynamik und ein ebensolches Eigenleben ...

... was Holly-Jane Rahlens in ihrem siebten Roman eindrucksvoll zu erzählen weiß. Angeregt durch den Aufsatz “A Letter Through the Time Barrier”, den sie als Schülerin in der 5. Klasse selbst verfasst hat, entwarf sie ein ähnliches Szenario, allerdings weniger "naiv, oberflächlich und doof", wie sie ihre Zeilen aus heutiger Sicht selbst kommentiert.

Dennoch, es ist und bleibt ein Unterhaltungsroman, der sich sprachlich der Geschichte unterordnet und diese schon deshalb wie im Flug vergehen lässt. Besonderheiten gibt es allerdings nicht wenige, denn indem die Autorin innerhalb ihrer Science-fiction-Geschichte eine berührende Liebesgeschichte integriert, verleiht sie dem Genre eine nicht gerade übliche Dimension. Auch den in dieser Literaturgattung üblichen Technikteil lässt sie weitgehend unbeachtet, was nicht unbedingt ein Vorteil ist. Man sollte die Gerätschaften, die man für seinen jeweiligen Schauplatz ersonnen hat, weitaus genauer zu definieren wissen. Es ist schon in gewisser Weise unbefriedigend, wenn der Leser wenig über die sog. "BBs" erfährt. Die direkt in den Kopf implantierten Brain Buttons ermöglichen sämtliche Tätigkeiten und Vorgänge, für die man früher einen Computer benötigt hat. So etwas wie Tastaturen oder gar Füllfederhalter sind völlig out. Niemand kann mit derlei Gerätschaften noch etwas anfangen.

Über die in Everlasting angewandten Methoden zum Thema Zeitreisen erfahren wir leider überhaupt nichts, was ich als Leser einfach nur als unbefriedigend empfinde, zumal diese faszinierende Art und Weise, ein vorgegebenes Ziel zu erreichen, in diesem Buch zentrale Bedeutung hat. Man beschäftigt sich auch durchaus erfolgreich mit dem Klonen von Menschen und der Speicherung von Erinnerungen, wobei man sich in diesem Zusammenhang fragt, wie es möglich war, nach der (ebenfalls nur angedeuteten) Katastrophe des "Dark Winters", der von 2018 bis 2095 wütete, und einen Großteil der Erdbevölkerung ausrottete, derart hochentwickelte Technologien zu entwickeln. Die unbeantworten Fragen einfach auf die Phantasie der Leser zu übertragen, wäre mehr als eine fade Ausrede, denn wenn er eine ebensolche besitzen würde, bräuchte er solche Bücher nicht zu lesen.

Das fast an Fantasy erinnernde Cover und der oberflächlich gehaltene Klappentext hätte mein Interesse sicherlich nicht geweckt. Die Aussicht, seit ewigen Zeiten mal wieder einen SF-Roman zu lesen und besprechen zu dürfen, schien mir dennoch eine lohnende Aufgabe zu sein. Denn gerade die zitierten Mankos sowie der genreuntypische Verlauf des Romans können sehr wohl auch ihre faszinierenden Seiten haben. Die Autorin hält vieles im Unklaren und schafft es tatsächlich, in einigen Aspekten eine eventuell nicht vorhandene Phantasie des Lesers zumindest im Ansatz zu aktivieren. Und was den Schluss betrifft, kann es das sicherlich noch nicht gewesen sein. Zwar enden alle Handlungsstränge, die sich in einem komplexen Wirrwarr zwischen Vergangenheit und Zukunft schier zu verlieren drohen, dennoch möchte man den ebenso verliebten wie wagemutigen Finn noch etwas begleiten und der Dinge harren, die da vielleicht noch passieren mögen ... oder vielleicht auch nicht ... oder wie auch immer ... und womöglich werden dann einige offene Fragen auch noch beantwortet werden ...

 

Thomas Lawall - März 2012

 

 

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