Literatur

Es war einmal eine Stadt


von Thomas Reverdy


288 Seiten
© 2015 Flammarion, Paris
Für die deutschsprachige Ausgabe
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2017
www.berlinverlag.de
ISBN 978-3-8270-1345-3



Ohne seinen Begleiter Patrick, der ihn immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbringt, könnte Eugène den Eindruck gewinnen, sich irgendwie im falschen Film zu befinden. In selbigem wäre es durchaus möglich, bei der Zwischenlandung ins falsche Flugzeug gestiegen zu sein, oder dass vielleicht "ein anderer Eugène" in das "wahre Detroit" geflogen sein könnte.

Doch die Realität der sich abzeichnenden Krise gewinnt immer mehr die Oberhand. Eugènes Spezialgebiet ist das "Industrial Engineering". Als Ingenieur in einem Automobilkonzern tätig, wurde er nach diversen, jedoch nicht näher definierten Misserfolgen nach Detroit versetzt. Dort will er mit einer Handvoll Kollegen ein Entwicklungsbüro leiten, um mit diesen "eine Art Eliteteam für ein Kooperationsprogramm der Autobauer zu bilden" - was immer dies bedeuten möge.

Vor dem Hintergrund der Immobilienkrise ab 2007 beschreibt Thomas Reverdy das Leiden einer Stadt, die einen beispiellosen Niedergang zu verzeichnen hat und dies nicht erst seit dem Konkurs von General Motors 2009 und der Insolvenz, die Detroit 2013 anmelden musste. Ethnische Konflikte, Wegzug der Bevölkerung, eine ebenso marode wie korrupte Verwaltung und ein Anstieg der Kriminalität waren ebenfalls Tagesordnungspunkte eines nicht funktionierenden Systems.

Deshalb ist es auch gar nicht wichtig, die Figuren in seinem Roman genau zu zeichnen. Sie definieren sich eher durch das, was sie tun oder auch nicht tun. Sie wirken wie Schachfiguren einer ebenso höheren wie nicht sichtbaren und schon gar nicht kontrollierbaren Macht. Sie müssen sich auch untereinander nicht zwangsläufig kennen, weshalb die Handlungsebenen offen bleiben. Sich zu treffen ist nicht (in jedem Fall) vorgesehen und auch gar nicht nötig.

Es reicht die Möglichkeit oder eine Ahnung von Schnittmengen. Der zwölfjährige Charlie, der nach einer folgenschweren Nacht, mit mehr als nur einem schlechten Gewissen, nach Hause kommt beispielsweise. Es ist nur einer von vielen großartigen Momenten in diesem Roman, wenn Charlie nicht einmal bewusst ein vorbeifahrendes Auto registriert, kurz bevor er das Haus betritt. "Vielleicht war es Eugène auf dem Weg ins Büro."

Die Menschen in "Es war einmal eine Stadt" sind Mittel zum Zweck. Thomas Reverdy richtet Scheinwerfer auf einzelne, scheinbar wahllos herausgegriffene Einzelschicksale, einzelne Ameisen, die versuchen, ihren stark beschädigten Bau notdürftig zu reparieren und irgendwie in ihm zurechtzukommen.

Jenes "Dive In" ist eine "andere Welt". Die schäbige Bar, in welcher ein "endloser Sommer" herrscht und in welcher "die betäubten Empfindungen der durch die Krise entvölkerten Stadt plötzlich wieder an die Oberfläche" kommen lässt, ist für Eugène zunächst ein Hoffnungsschimmer, und doch bestätigt diese Insel letztlich das marode Ganze.

Unglaublich, wie kraftvoll Thomas Reverdy erzählt und beschreibt. Beispielsweise als Eugène den ersten Abend in Detroit erlebt: "Überall roch es nach anderswo." Oder wenn es Ereignisse und Taten gibt, deren Folgen "zu groß" sind, "Münder und Herzen" verschließt, oder jene Stadt, die sich komplett in Luft aufzulösen scheint.

Schildert er den Zustand, einen Brand und schließlich den Zusammensturz eines Hauses auf mehreren Seiten, könnte man meinen, es handle sich um den langsamen Tod eines lebendigen Wesens. Diese Poesie des Untergangs könnte, Satz für Satz auseinandergenommen, eine mehrteilige Gedichtbandreihe füllen. Der Rezensent wagt zur Veranschaulichung und als Experiment die Isolation eines einzelnen, wahllos herausgegriffenen Satzes, welcher folgenden Vierzeiler ergeben würde:

"Anscheinend ist das Leben
manchmal wie ein Roman
und braucht einen Unbekannten,
um erzählt zu werden."

Thomas Reverdy hat neben aller literarischen Kunstfertigkeit aber noch andere Überraschungen zu bieten ... die jetzt aber auch solche bleiben sollen. Es kann jedoch sicher ausgeplaudert werden, dass er einem, vielleicht sogar mehrmaligen, Genrewechsel nicht unbedingt ablehnend gegenüber steht.

Fazit: Düsteres Buch - glänzende Sprache. Sensibles Portrait eines Verfalls mit erschreckender Allgemeingültigkeit. "Spuren eines ungewissen Lebens".

 

Thomas Lawall - April 2018

 

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