Eisfuchs
von Tanya Tagaq
200 Seiten © der deutschsprachigen Ausgabe: Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2020 © Originalausgabe: Tanya Tagaq 2018 www.kunstmann.de ISBN 978-3-95614-353-3
Als elfjähriges Mädchen treibt sie sich mit ihren Freunden herum. Sie wird wieder zu spät nach Hause kommen. Die Sonne scheint, doch es ist bereits zwei Stunden nach Mitternacht. In Nunavut zeigen sich Tages- und Jahreszeiten in anderem Licht. Das namenlose Mädchen wird es bitter bereuen. Schon ahnt sie die "donnernden Schritte" ihres Vaters.
Sie nimmt es in Kauf, denn die begrenzte Zeit, die ihnen noch bis zum Beginn der Pubertät bleibt, wollen sie in "prickelnder Freiheit und Neugier zelebrieren".
"Im Jungsein schwelgen, wünschen, es würde nie enden."
Die Witterung im Norden Kanadas, am Rande des Eismeers, ist so extrem wie die Geschichte, die uns die Sängerin und Komponistin Tanya Tagaq vorstellt. Die üblichen eingängigen Erzählstrukturen streift sie nur am Rande und tastet sich mit zunehmender Intensität in die Unendlichkeit einer Art poetischer Mystik.
Die Kinder erschaffen sich Freiräume, bevor sie ihnen, teils gewaltsam, genommen werden. Einer davon ist jenes heruntergekommene "Schutzhaus". Keiner macht Vorschriften und "niemand trinkt". Noch ist Zeit für sinnlose Albernheiten und ein ausgelassenes, grundloses Lachen.
Immer mehr vermischt sich die graue Alltäglichkeit mit phantastischen Fluchten in die Mysterien der Inuit, die in dieser Geschichte als Sinnbild für den Verlust ihrer Traditionen und der kulturellen Umwälzungen stehen. Längst ist nichts mehr, wie es war, und am Horizont droht bereits die Gewissheit, dass es keinen Weg zurück gibt.
Wer sich je mit Tanya Tagaqs Musik beschäftigt hat, wird ahnen, wie ihr literarisches Debüt klingen mag. Sanfte Klänge, die mitunter sogar eine, wenn auch kurze, Harmonie streifen, steigern sich in eine vermeintlich unkontrollierte, disharmonische Ambivalenz und archaische Vehemenz. Die Fähigkeit, ein literarisches Pendant zu finden, mag ganz und gar nicht selbstverständlich, ja fast unmöglich sein.
"Ich bin ein Blitz. Ich gehöre hierher, in diese Welt, in der nichts existiert."
Umso mehr verwundert es, wie berauschend es sein kann, das Unmögliche zu lesen. Hin- und hergerissen verschlingt man Worte und Sätze, die man so noch nie gehört und nicht für möglich gehalten hätte. Schwer zu verkraften sind maßlose Ignoranz und menschliche Grausamkeit, auch wenn sie nur angedeutet werden.
Im Elternhaus wird ebenso schranken- wie pausenlos gefeiert, was sich im Großen und Ganzen auf den ungezügelten Genuss von alkoholischen Getränken beschränkt. Gewalttätige Auseinandersetzungen sind nur eine der katastrophalen, sich fast zwangsläufig ergebenden Folgen. Weitaus schlimmer wird es, wenn sich dunkle Gestalten nachts in Mädchenzimmer schleichen.
Es hat triftige Gründe, wenn Tanya Tagaq ihren Erstling den "verschwundenen und ermordeten indigenen Frauen und Mädchen Kanadas, und den Überlebenden der Residential Schools" widmet. So bekommen dann auch die religiösen Umerzieher ordentlich eingeschenkt.
"Wie können die Christen sagen, wir seien in Sünde geboren?"
"Eisfuchs" erzählt von der Odyssee einer heranwachsenden Frau, ihren notwendigen Fluchten und von der bildgewaltigen Verarbeitung ihres Martyriums.
"Die Angst lernt, vor mir wegzurennen ..."
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