Ein Winter in Belgrad
von Srđan Valjarević
214 Seiten © schruf & stipetic GbR 2025 © 1994 Srđan Valjarević www.schruf-stipetic.de ISBN 978-3-944359-82-3
Formalitäten interessieren den Rezensenten normalerweise nicht im Geringsten. In diesem Fall aber scheint ihm die Erwähnung des Buchumschlags eine Erwähnung wert, hat er doch einen solchen noch nicht gesehen. Jedenfalls keinen, der so gut zum Inhalt passt. So, als ob jene Faltung, die das Buch umschließt, es festzuhalten oder gar warmzuhalten versucht.
Denn es scheint kalt zu werden, wie der Titel verspricht. Der Klappentext verrät es sogar ganz genau. Die Geschichte, die eigentlich gar keine ist, muss in vier Monaten erzählt sein, so viel steht fest. Den geschichtlichen Hintergrund bildet der Bosnienkrieg (1992-1995), wobei Srđan Valjarević den Fokus auf Belgrad, seine Heimatstadt, legt, und das in einem klar definierten Zeitrahmen.
Ebenso festgelegt ist die Struktur des Inhalts, wobei es dem Autor trotzdem gelingt, dieses Werk von dem Korsett einer klaren Linie zu befreien, was sich wie ein Widerspruch anhört. Vier Monate lang notiert er jeweils drei Beobachtungen, die auf seinen täglichen Stadtrundgängen entstehen.
Wenn Leserinnen und Leser ihr Umfeld ähnlich erleben sollten, wird ihnen ein wahres Fest der literarischen Beobachtung präsentiert. Scheinbar Nebensächliches wächst in einem anderen Zusammenhang über sich hinaus, wie jene rennende Frau, die noch einen Bus erreichen will, der Taxifahrer, der auf Kundschaft wartet, oder der Hund, der die Vorderbeine durchdrückt.
Die oft sehr kurzen Begebenheiten und Beobachtungen stehen nicht im Zusammenhang mit einer Geschichte im herkömmlichen Sinn. Es sind eher ganz viele. So wie der Inhalt dieser Briefe vielleicht, die jenes Mädchen gerade in einen Briefkasten wirft:
"Sie schickt jemandem einen kleinen Teil ihres Lebens. Sie schickt etwas aus ihrer Geschichte in eine andere Geschichte."
Es ist berauschend, wie es Srđan Valjarević schafft, das scheinbar Banale aus den Fesseln der Bedeutungslosigkeit zu befreien. Seitenweise Geschichten, die mit wenigen Sätzen, und manchmal nur mit einem, zurechtkommen müssen. Oft genug kommt die Tragödie Mensch ohne die großen Worte aus:
"Eine Frau geht gebückt und langsam, an die Schaufenster gedrückt, über den Bürgersteig und weint."
Neben einer Vielzahl unterschiedlichster Beobachtungen, Kritik an Gesellschaft und Politik, sowie der Legierung aus Momentaufnahmen, seinem Blick auf die Welt und sich selbst, bezieht er ausdrücklich jene seiner Belgrader ZeitgenossInnen in seine Tagebuchaufzeichnungen mit ein.
Neben seinen "HeldInnen" kommen auch "sechs Ehrengäste" zu Wort. Sie zu finden und zu lesen lohnt sich. So wie alles in diesem Buch! Man möchte weiter und länger an der Seite des Autors durch Belgrad gehen und mit ihm staunen, bedauern, kritisieren, belächeln, um letztlich die Welt so zu sehen oder zu befragen wie er es tut.
Die Bedeutung kommt dann ganz wie von selbst. Man wächst und sieht über den eigenen Horizont hinaus. Irgendwie lässt sich das in die eigene Erfahrungswelt einordnen, denn das, was passiert, kann in jedem Dorf, in jeder Stadt und in der ganzen Welt geschehen. Wenn man genau hinsieht.
Leider gehen auch die wunderbaren Bücher irgendwann zu Ende. Was bleibt, ist so etwas wie ein weiter Blick irgendwohin und Stille. Denn:
"Der Stille steht mehr zu, als es den Anschein hat."
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