Literatur

Die Welt wartet
Unheimliche Geschichten

von Christiane Neudecker


256 Seiten
© 2024 Luchterhand Literaturverlag, München
www.luchterhand-literaturverlag.de
ISBN 978-3-630-87758-7



"Das Böse ist zurück" heißt es auf dem Klappentext. Gefunden hat es der Rezensent aber nicht. Die Suche nach einer "gothic novel" verlief ebenfalls ohne ein nennenswertes Ergebnis. Die Struktur dieser Veröffentlichung weist in andere Richtungen, wobei diese gar nicht mal so leicht zu definieren sind.

Und das ist gut so. Die Geschichten sind vielschichtig, verzweigt, angenehm verwirrend und dabei sehr modern und topaktuell sowieso. Vielleicht auch ihrer Zeit voraus, denn was mit Hilfe einer KI herausgefunden werden kann, stellt das bisher Dagewesene schon ein wenig in den Schatten. Nachzulesen in "Die Welt wartet", wobei das Prädikat "unheimlich" hier nicht unbedingt passt. Immerhin schleicht sich aber eine raffiniert unterschwellige Beunruhigung an.

Ähnlich wie in "Point Nemo"... nur ganz anders. "Meyer", der seit dem Tod seiner Frau Elsbeth mit Realitäten zu kämpfen hat, die vielleicht gar keine sind. Er bekommt es in jenem seltsamen Hallenbad mit (filmreifen) Veränderungen seines Umfeldes zu tun, so als gäbe es "zwischen ihm und der Welt eine Art Stoßstange".

Christiane Neudeckers Figuren bleiben meist nur Andeutungen. Als Schatten ihrer selbst leben sie in konstruierten Szenarien, sind Statisten ihres Schicksals, welches oft undeutlich und statisch wirkt. Vermeintlich klare Bilder versprechen trotz ebensolcher Aussagen keinen Wahrheitsgehalt und stellen sich selbst in Frage. So auch die am Tresen sitzende "Totläuferin", der es vollkommen egal ist, welchen Gin ihr der Barkeeper einschenkt.

"Alles, was heute noch passiert, wird morgen unerheblich sein."

Personen stülpen ihr Innenleben nach außen und scheinen sich in ihrem eigenen Labyrinth nicht mehr zurechtzufinden. So als wären bei einem geplanten Filmprojekt die Storyboards irgendwie durcheinander gekommen. Man könnte beginnen, an der Existenz von Wirklichkeit zu zweifeln. Das aufregende Durcheinander von Szenen, die in sich schlüssig, aber am Ende nicht wirklich harmonieren wollen, hat eine nachhaltige Wirkung. Watte zum Beispiel, die ein Schiff frisst...

Das Ende der meisten Geschichten ist im Allgemeinen kein solches. Die Erzählung geht weiter, so wie das Leben immer weitergeht. Was auch passieren mag, die Welt dreht sich weiter. Leserinnen und Leser dürfen wählen, ob ihnen das genügt, ob ein Wähnen selbiges bleibt, oder ob sie den Geschichten Raum gestatten, sich selbst weiterzuerzählen.

Die Lektüre lässt wohlige Schauer und ganz erstaunliche Bilder zurück und man entwickelt die Bereitschaft, die Dinge fortan anders zu sehen. Unterschiedliche Blickwinkel summieren sich und als Nebenwirkung kann ein völlig anderes Zeitgefühl entstehen. Wer sich darauf einlassen kann, könnte vielleicht erkennen, wie viel unendliche Zeit und wieviel grenzenlose Möglichkeiten tatsächlich zur Verfügung stehen. Die Welt ist geduldig. Sie "wartet".

 

Thomas Lawall - Februar 2025

 

 

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