Die Welt war eine Murmel
von Herbert Dutzler
256 Seiten © 2021 Haymon Verlag, Innsbruck-Wien www.haymonverlag.at ISBN 978-3-7099-8101-6
Herbert Dutzler hat das eigentlich Unmögliche geschafft, indem er ein Tor in die Vergangenheit geöffnet hat. Jüngeren stellt er das Leben in den 1960ern vor und den Älteren gewährt er einen vergnüglichen, weil distanzierten, Rückblick in die eigene Kindheit und Jugendtage. Und das schafft er mit einer schon fast unheimlichen Intensität.
Ebenfalls hat er es geschafft, dem Rezensenten erstmals eine kleine Geschichte aus dessen privater Schatztruhe zu entlocken. 1961 muss es gewesen sein, als der vierjährige Thomas zum ersten Mal das Meer in seiner ganzen Pracht erleben durfte. Sofort manifestierte sich seine Faszination in rasende Tollerei, bis jemand seine Mutter fragte, ob er denn immer so sei. Die Antwort war ein klares Ja, was die Strandnachbarin in ungläubiges Staunen versetzte, denn sie hätte vier Buben, die alle zusammen nicht so einen Lärm veranstalten würden wie dieser geölte Blitz alleine! Diese und andere, vielleicht längst vergessene, Geschichten werden durch Dutzlers Zeitreise wieder lebendig und erstrahlen in neuem Glanz.
Mehr mit dem Verstand erfasst der zehnjährige Siegfried, der mit seiner Schwester und seinen Eltern den ersten Italienurlaub in Caorle verbringt, die ersten Eindrücke am Strand: "So etwas habe ich noch nie gesehen. Von diesem Moment an weiß ich, dass ich einmal am Meer wohnen möchte." Seine Mutter ist zutiefst ergriffen. Vater Adolf weniger, denn schließlich ist das "auch nicht viel anders als der Traunsee."
Der österreichische Lehrer und Autor wählt zwei interessante Erzählperspektiven. Die eine ist der junge Siegfried selbst, der seine Kindheitserlebnisse in der Ich-Form erzählt und die andere ist der erwachsene Siegfried, dessen Gegenwart aus der Distanz des imaginären Erzählers geschildert wird. Für ihn beginnt die Geschichte in der Wohnung seiner verstorbenen Mutter. In einem alten Schrank befinden sich diese Kisten, vollgestopft mit Erinnerungen, die immer wieder das Weiterkommen mit der geplanten Entrümpelung verhindern. Da sind diese alten, verblassten Fotos mit dem "rosa Stich" ...
... die ihn in die Vergangenheit führen. In jene Zeiten, die noch lange keine Handys kannte. So gab es nur ein einziges elektrisches Gerät in seinem Zimmer: Die Nachttischlampe. "Keine Musik, keine Stöpsel in den Ohren." Damals musste noch gegessen werden, was auf den Tisch kommt, Frauen mussten sich erst die Erlaubnis ihres Mannes einholen, wenn sie einer Arbeit nachgehen wollten, für Kinder war das widerspruchslose Gehorchen noch immer angesagt und die Figur des Altausseer Polizisten Franz Gasperlmaier, den sich ein 1958 im österreichischen Schwanenstadt geborener Schriftsteller einmal ausdenken sollte, reine Zukunftsmusik.
All die netten, aber auch bösen Details sind ebenso originell wie nachhaltig formuliert, dass man sich ein ums andere Mal fast dazu verleiten lässt, der "guten alten Zeit" nachzutrauern, was sie natürlich niemals war. Trotzdem sind es herrlich berauschende Erinnerungen an jene Tage, die eigentlich noch gar nicht so lange her sind, die aber andererseits wie ausgelöscht und für immer verschwunden schienen.
Gewidmet hat Herbert Dutzler dieses Buch seinem Enkel Gregor, "damit er sich vorstellen kann, wie das Leben zur Zeit seiner Groß- und Urgroßeltern war". Als Fazit eignet sich dieser Satz ebenfalls sehr gut, und man darf dem Autor sicherlich unterstellen, dass er damit alle anderen Enkel/innen mit einbezieht, einschließlich allen Opas und Omas, die noch einmal auf leichtem Fuß durch die lebendig gewordenen Standbilder der Vergangenheit schlendern dürfen, um all die Regeln und Vereinbarungen noch einmal nach Herzenslust zu brechen, bevor sie sich auf den Weg in eine unbekannte Zukunft machen.
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