Literatur

Die Vorhersage

von Nikki Erlick


480 Seiten
© 2022 by Nikki Erlick
© 2022 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München
www.heyne.de
ISBN 978-3-453-32244-8



Was das Thema dieses Buches betrifft, waren die Erwartungen sehr hoch angesiedelt. Der erste Eindruck beim Aufschlagen des Romans trübte dann sogleich die Neugier, denn wenn mit typografischen Mitteln, wie Schriftgrad und Zeilenabstand, Text und Umfang gestreckt wird, lässt das meist nichts Gutes vermuten.

Was sich beim Lesen der ersten Zeilen prompt bestätigt und weiter fortsetzt. Was ist das? Ein Jugendbuch? Gewisse Erwartungen werden zwar aufgebaut, jedoch mit recht einfachen sprachlichen Mitteln. Nichts gegen eine Klarheit im Ausdruck, aber das Thema verlangt eine völlig andere Herangehensweise.

Aus wechselnden Perspektiven heraus werden uns dann Personen vorgestellt, die mehr als Statistenrollen nicht spielen können. Ein farbloser Charakter folgt dem anderen. Mitunter stellt die Autorin ihre Protagonisten in Verbindung mit ihren Kleidungsstücken vor. Drei Personen unterscheiden sich dann lediglich durch das Tragen eines "Princeton-Pullovers", einer "Mets-Baseballkappe" und eines Paares schwarzer "Oxfordschuhe".

Wäre da nicht das ebenso mysteriöse wie weltweite Auftauchen jener braunen Boxen, möchte man schon nach wenigen Seiten die Lektüre beenden. Den unzerstörbaren (!) Boxen, die nur "fünfzehn Zentimeter breit und sieben Zentimeter lang" sind, liegt jeweils ein Faden unterschiedlicher Länge bei. Dieser bedeutet, laut der eingravierten Botschaft in der Box, die individuelle Lebenslänge des Empfängers und ist ebenfalls unzerstörbar.

Sinn und Herkunft des Arrangements, welches nur Erwachsene erreicht, sind völlig unklar und geben, wie soll es auch anders sein, zu wildesten Spekulationen Anlass. Sehr bald finden wissenschaftliche Zuständigkeiten aber immerhin heraus, dass die Fäden "echt" sind. Na so was!

Nun treffen Menschen eine ganze Reihe Entscheidungen, die sich ohne jene "Vorhersagen" völlig anders gestaltet hätten. Soll man beispielsweise eine Lebensgemeinschaft, die aus einem "Langfaden" und einem "Kurzfaden", wie die Menschen jetzt grob unterschieden werden, eingehen? Oder soll man in Krankenhäusern nur noch Langfäden behandeln, da es bei Kurzfäden ja eh keinen Sinn mehr macht oder gar umgekehrt?

Es ist nur mit Mühe ein Weiterlesen in diesem Roman zu bewerkstelligen, da dieses grandiose Thema derart oberflächlich, ja fast naiv abgehandelt wird. Vollgestopft mit Alltagsbanalitäten, ebensolchen Dialogen und allerlei rührseligem Beziehungsschmalz:

"Sie hatte sich schon zu ihm hingezogen gefühlt, als er nur ein namenloser Schatten hinter seinen Worten war."

Weltweit völlig aus der Bahn geworfenes Sozialverhalten oder die zu erwartenden tiefgreifenden gesellschaftlichen Änderungen werden jeweils auf den kleinsten Nenner heruntergerechnet. Zu erwartende politische Erdbeben münden beispielsweise in kleingeistige Überlegungen, ob man Bürgerinnen und Bürger nicht informieren soll, dass es sich bei dem Mitbewerber um die Präsidentschaftswahl um einen Kurzfaden handelt, der seine Amtszeit gar nicht überleben würde. "Wie schrecklich", meint sein Konkurrent. Also der mit dem längeren Faden ...

... was einen "klugen" Geist irgendwann zu einer wirklich weltbewegend neuen Erkenntnis führt:

"Wir sind alle gleich, unabhängig von unserem Faden, wir sind alle Menschen."

Das ist öde, langweilige und spannungsbefreite Unterhaltung im Seifenoperland. Frei von Ballaststoffen und leicht verdaulich. Deshalb statt eines Fazits eine Vorhersage: Für den "Flüssig-zu-lesen-Verein" sicher ein rauschendes Fest. Philosophie ultraleicht.
Eine Enttäuschung für diejenigen, die sich von diesem Thema wesentlich mehr Tiefgang erwartet hatten. Bestenfalls für Kinder ab zwölf Jahren als Einstieg in philosophische Gedankenwelten geeignet. Letztlich bleibt ein großes Aber, denn nicht auszudenken, was man aus einem solchen Thema hätte machen können!

 

Thomas Lawall - Mai 2023

 

 

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