Die Totenärztin - Wiener Blut
von René Anour
412 Seiten © 2021 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg www.rowohlt.de ISBN 978-3-499-00558-9
Wenn das der Auftakt zu einer Serie ist, dann ist es einer, der sich gewaschen hat. Der Titel deutet gewiss einiges an, aber bereits auf den ersten Seiten befindet man sich auf einer Art Überholspur und sämtliche Erwartungen werden in den Rückspiegel katapultiert, um schließlich alsbald zu verschwinden. Das hätte man der jungen Frau dann doch nicht zugetraut.
Vor allem diese abgebrühte Selbstverständlichkeit, mit der sie das vor ihr liegende Ergebnis der Bemühung um "Gerechtigkeit", zelebriert nach den Vorstellungen der Schneidersfrau Bertha Brocker, betrachtet. Man befindet sich in der Wiener Gerichtsmedizin im Jahr 1908. Einer geregelten Arbeit nachzugehen ist für Frauen absolut unüblich, Ärztin werden zu wollen schon gar nicht. Geradezu abartig wäre der Wunsch, eine maßgebliche Stelle in einem gerichtsmedizinischen Institut einnehmen zu wollen.
Aber genau dies schwebt der jungen Ärztin Fanny Goldmann vor, die trotz heftigstem Gegenwind ihr Medizinstudium erfolgreich absolvierte. Doch der Weg zu ihrem leidenschaftlich anvisierten Ziel, der Pathologie, ist weit. Immerhin schafft sie es, eine Anstellung als Prosekturgehilfin zu erhalten, die einerseits eine Eintrittskarte ist, andererseits aber jedes aktive Handeln am Sektionstisch verbietet. Fanny gedenkt jedoch nicht, sich daran zu halten ...
Die Obduktionen werden in einem ebenso emotionslosen wie gnadenlos realistischen Stil beschrieben. Man schaut eben mal in eine Luftröhre, klappt eine Bauchwand nach außen, oder zieht, nach dem gewaltsamen Tod eines Mordopfers, eine Kugel aus der Rückenmuskulatur. Selbstverständlich von innen. Leserinnen und Leser müssen aber nicht nur damit zurechtkommen, sondern auch mit abgründigem, schwarzem Humor. Hier sind sich Fanny und ihre männlichen Kollegen absolut ebenbürtig.
Natürlich gibt es auch einen Fall, welcher in Zusammenhang mit der 1898 ermordeten Kaiserin Elisabeth sowie insbesondere dem Täter steht. Die Legierung aus geschichtlichen Fakten und frei erfundenen Elementen (zu denen der Autor in einem Nachwort ausführlich Stellung nimmt!) mag etwas unglücklich, im Sinne von weit hergeholt, gewählt sein. Der gedehnte Mittelteil sowie die etwas zusammengereimt wirkende Auflösung können ebenfalls nicht ganz überzeugen. Dennoch ist "Wiener Blut" keineswegs eine komische Operette, sondern durchaus wörtlich zu nehmen!
Insgesamt läuft die Geschichte der quirligen jungen Ärztin dem eigentlichen Kriminalfall, den man nicht so recht ernst nehmen kann, glücklicherweise komplett den Rang ab. Aufkeimende forensische Zahnmedizin und die Wiener Schule der Kriminalistik, sowie das Wiener Flair ganz allgemein und nicht zuletzt die Stellung der Frau vor über einhundert Jahren, bilden einen überzeugenden Rahmen.
Addiert man nun noch gewisse Umstände um eine ganz bestimmte Person dazu, möchte man unter keinen Umständen den zweiten Teil der Serie "Goldene Rache" verpassen.
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