Literatur

Die Insel Kolbeinsey

von Bergsveinn Birgisson


222 Seiten
© 2025 Residenz Verlag GmbH, 5023 Salzburg
www.residenzverlag.com
ISBN 978 3 7017 1799 6



Plötzlich ist alles anders. "Sein Freund" war schon immer depressiv gewesen, doch neuerdings scheint alles zu eskalieren. 

"... als hätten alle Dämme nachgegeben und eine schwarze, zähflüssige Masse sich ihren Weg in seine Seele gebahnt wie ein reißender Strom durch eine geborstene Staumauer."

"Ein Mann", der Erzähler", fühlt sich verantwortlich, schon um der langjährigen Beziehung willen, seinem Freund zu helfen, der sich, wie dessen Mutter sagt, aufgegeben hat und nicht mehr leben will.

Die Zwangseinweisung in die Psychiatrie scheint unvermeidlich, was die beiden Männer gleichsam in eine tiefe Krise treibt. Jeden auf seine Art. Der Mann verliert die Orientierung und sein Alltag bricht aus den gewohnten Bahnen aus, was auch seiner Freundin nicht entgeht:

"Wo bist du, mein Freund? Wo ist mein fröhlicher Junge?"

Schließlich entschließt er sich, seine Vorlesungen an der Uni in Reykjavik ausfallen zu lassen, um seinen Freund zu besuchen. Die Dinge entwickeln sich anders als gedacht, als selbiger nach mehreren Versuchen endlich zu sich kommt, reagiert und zu sprechen beginnt...

Leserinnen und Leser ahnen noch nicht, was sie erwartet, wobei die Sprache Bergsveinn Birgissons indirekte Hinweise gleich zu Beginn gibt. Das sind keine Dialoge von der Stange, und schon gar nicht eine Geschichte wie jede andere. Diese Reise geht nach innen. So als ob zwei Menschen ihr vergessenes Seelenleben neu entdecken.

Die Hauptdarsteller kommen ohne Namen aus. Die Geschichte braucht sie nicht. Sie lebt von dem, was sie tun und was sie sagen. Die ausgeprägten Dialoge geraten immer mehr aus dem Ruder und sind geprägt von Vorwürfen, Anklagen und Selbstzweifeln. Sowohl Realität als auch Literatur, des Erzählers Fachgebiet, werden in Frage gestellt. Auch für Leserinnen und Leser ergeben sich immer mehr Fragen.

Die erste mag sein, wer denn nun eigentlich der Depressive ist und die weitaus größere gipfelt in der Vermutung, dass hier irgend etwas ganz und gar nicht zu stimmen scheint. Schließlich scheint sich die abenteuerliche Befreiung aus der Psychiatrie, die sich anschließende Flucht kreuz und quer durch Island und die Verfolgung durch eine rabiate Krankenschwester in eine sich immer weiter steigernde Absurdität zu entwickeln.

Hierzu gehört auch und ganz besonders das Ziel der Reise. Die Insel Kolbeinsey misst nur noch wenige Quadratmeter und ist dem sicheren Untergang geweiht. In nicht wenigen Passagen verliert man die Orientierung und kann dem Wechselspiel der schrägen Realitäten, den Bezügen in die nordische Mythologie und dem Sinn des Ganzen überhaupt, kaum mehr folgen.

Wie soll das alles überhaupt enden? Nach Kolbeinsey geht es nicht weiter. Der Rest dieser Insel markiert eine Grenze. Auch jene der Literatur vielleicht, deren Bedeutung der Erzähler sich nicht mehr sicher ist. Eine Entscheidung scheint unausweichlich zu sein, eine Art Lösung des existenziellen Verwirrspiels aus Sinnfindung, Selbstheilung und -reflexion.

Ob wohl (mindestens) eine Figur für den Autor selbst steht? Wie dem auch sei: Das Ende löst den Knoten und fasziniert ebenso, wie die Geschichte selbst, was man erst im Nachhinein erkennt. Eine seltsame aber reale Erleichterung schafft sich Raum, und wirkt wie eine unerwartete, aber um so mehr beflügelnde Erlösung. Fragen gibt es jetzt keine mehr.

 

Thomas Lawall - Juni 2025

 

 

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