Literatur

Die Gerichtsmedizinerin
Wie die Wissenschaft Verbrecher überführt


von Elisabeth Türk


256 Seiten
© 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
www.rororo.de
ISBN 978-3-499-63008-8



Mit dem Hubschrauber zu einem Leichenfundort geflogen zu werden, kommt vor, ist aber relativ selten. Einmal hatte es aber die Polizei in Leicester besonders eilig, weshalb sie die Gerichtsmedizinerin direkt auf dem Helikopterlandeplatz des Krankenhauses abgeholt haben. Elisabeth Türk war damals stellvertretende Institutsleiterin der "Forensic Pathology Unit" an der Universität von Leicester. Den Tatort, der sich mitten in einem Feld befand, erreichten sie nach etwa einer halben Stunde. Die gefesselte und geknebelte Leiche, die ein Bauer gefunden hatte, lag mit dem Kopf im Wasser an einem Bach. Nach der ersten Spurensicherung durch Polizeibeamte, konnte die Gerichtsmedizinerin mit ihrer Arbeit beginnen. In diesem Fall war die Bestimmung des Todeszeitpunktes aufgrund der "supravitalen Phänomene" recht einfach, auch wenn er mit der Tatzeit nicht gleichzusetzen war. Wie sich herausstellte, wurde das Opfer nach heftiger Gegenwehr ausgeraubt, gefesselt und ertrank später im Bach. Die beiden Täter konnten ermittelt werden.

Schwieriger wird es, wenn - wie im Kapitel "Alte Knochen" beschrieben - nur noch ein skelettierter Torso gefunden wird. Jene Knochen wurden in einem Waldstück in den East Midlands gefunden. Gewebereste waren, im Gegensatz zu den Organen, noch vorhanden. An einer Rippe konnte die Gerichtsmedizinerin eine feine Einkerbung feststellen, was eine "Bruststichverletzung" vermuten ließ. Der Kopf des Opfers war nicht mehr vorhanden und weitere Merkmale ließen weitere Schlüsse auf den Tathergang bzw. auf das, was danach geschah, zu. Weitergehende Untersuchungen ergaben schließlich den Hinweis auf einen 26-jährigen Mann, der als vermisst gemeldet war. Auch dieser Fall konnte, wenn auch nach Jahren erst, aufgeklärt werden.

Der wahrhaft spektakuläre Fall eines "historischen Leichenfundes" begann harmlos und eher zufällig. Einem Flugzeugingenieur fiel auf einem Acker im Hamburger Umland ein Aluminiumteil auf, welches gut einen Meter aus dem Boden herausragte. Dem zuständigen Landwirt war dieses Teil wohl bekannt, aber der Einfachheit halber hatte er es bei der Bodenbearbeitung mit seinem Traktor jeweils umfahren. Bei näherer Untersuchung des Fundortes wurde eine Brandbombe gefunden und, nach der Entschärfung, menschliche Überreste, ein Schlauchboot sowie ein Fallschirm. Die weiteren Ermittlungen ergaben, dass die Knochenfunde tatsächlich den gefundenen Ausweispapieren des Piloten zugeordnet werden konnten. 1943 war die Maschine wegen eines technischen Defektes abgestürzt, nachdem sich der Funker und ein Mechaniker noch mit dem Fallschirm retten konnten. Die noch lebende Witwe konnte somit nach fast 60 Jahren Gewissheit über den Tod ihres Mannes erhalten und seine Leiche nach so vielen Jahren einer ordentlichen Bestattung zuführen.

Elisabeth Türk räumt auf mit völlig falschen Vorstellungen, die ihren Berufsstand betreffen. Und dies tut sie sehr gründlich und nachhaltig. In der Einleitung beginnt sie deshalb erst einmal damit, den Unterschied zwischen einer Pathologin und einer Rechtsmedizinerin zu definieren, und führt den Laien damit von seinen diffusen Vorstellungen auf die von ihr beabsichtigte Sachebene ... ohne dabei ethische und moralische Gesichtspunkte zu vergessen.

Nach und nach entsteht ein grundlegend anderes Bild von der Arbeit in der Gerichtsmedizin und ihren grundsätzlichen Aufgaben und Zielsetzungen, und dass sich Menschlichkeit und professionelle Distanz nicht ausschließen. Die Autorin führt den Leser weg von gruseligen Vorstellungen und einseitig geprägten Kischees aus der Flut von Kriminalfilmen, die mehr oder weniger ein sehr verzerrtes Bild ihres Berufes zeigen oder immer wieder Techniken darstellen, die den tatsächlichen Verfahrensweisen nicht entsprechen oder schlicht falsch sind. Beispiel: Wasserleiche. In Krimis wird der Befund "Wasser in der Lunge" als Begründung für den Tod durch Ertrinken herangezogen, was so nicht stimmt. Vielmehr kann der Ertrinkende nicht mehr ausatmen, da die Lunge "balloniert" ...    

Eine ganze Reihe von Fallbeispielen zählt Elisabeth Türk auf, die aus ihrer Sicht allesamt den Schrecken (fast) verlieren, ob es sich nun um die Leiche mit den 227 Verletzungen handelt, Leichen von Kindern und Jugendlichen, die spezielle Problematik mit Wasserleichen und völlig verkohlten Mordopfern, Menschen, die sich selbst getötet haben, oder den chaotischen Verhältnissen bei Massenunfällen, auch "Großschadensereignisse" genannt.

Im Vordergrund stehen jeweils die sachliche Aufklärung der Umstände, die neben den polizeilichen Ermittlungen und der damit verbundenen Pflicht zur Aufklärung auch einen Blick auf die Angehörigen wirft. Insbesondere bei Flutkatstrophen, Zugunglücken oder Flugzeugabstürzen spielt die Aufklärung der Angehörigen eine sehr große Rolle. Auch bei Massenunfällen auf Autobahnen mit erheblichen Personenschäden entstehen hier Perspektiven, die der Rezensent bisher nicht für möglich gehalten hätte. Versicherungstechnische Belange spielen ebenfalls eine nicht unwesentliche Rolle. Kurioses und von Irrtümern der besonderen Art weiß die Autorin zu berichten, denn nicht jedes Opfer ist ein solches, und nicht jeder Fund ist das, was man zunächst angenommen hat ...

Am Ende dieses höchst interessanten Werkes bleibt dem erstaunten Laien und Menschen, die es wirklich ganz genau wissen wollen, die erstaunliche Erkenntnis, es hier (beinahe) mit einem ganz normalen Beruf zu tun haben. Von einem gewissen Standpunkt aus gesehen, natürlich.

 

Thomas Lawall - Februar 2013

 

 

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