Literatur

Die Fälschung der Welt

von William Gaddis


1230 Seiten
© der Originalausgabe 1952, 1955,
Sarah and Matthew Gaddis
© der deutschsprachigen Ausgabe 2013
by Deutsche Verlags-Anstalt, München
www.dva.de
ISBN 978-3-421-04519-5



Tante Mays "mittelalterliche Glaubensstärke", jahrelang mit der ihr ureigenen Vehemenz und Unbelehrbarkeit vorgetragen, reichte nicht aus, um Wyatt Gwyons aufkeimendes Talent in die ihr richtig erscheinenden Bahnen zu lenken, obwohl die Schwester seines Vaters schon in seiner Kindheit versuchte, jeden Anflug von Kreativität im Keim zu ersticken, denn "bei Strafe ewiger Höllenqualen sollte sich kein Sterblicher je auf diesem wahrhaft gottverdammten Felde versuchen". Seine erste Zeichnung fand deshalb auch nicht den erwarteten Beifall, denn Tante May fragte ihn beim Anblick jenes Rotkehlchens, ob er denn seinen Herrgott gar nicht mehr lieben würde!

Tante May starb, als er zwölf Jahre alt war - "den Ätzfraß im Herzen" - bereits mit dreiundsechzig Jahren. Wie es sich aber für arme Seelen gehörte, sehnte sie sich zeitlebens in ihrer "Heilsgewissheit" nach einem schnellen Stammplatz im Himmel, um "dem Kerker des Leibes" zu entfliehen. Drei Jahre später erkrankte Wyatt selbst schwer, wobei die Ärzte in seinem Fall vor einem Rätsel standen. Seine Genesung sollte sich über Jahre ziehen, während Reverend Gwyon, sein Vater, sich immer mehr in seiner eigenen Welt verlor ...

Wyatt widmete sich mehr und mehr der Malerei und suchte nach Wegen, dem Elternhaus zu entfliehen. Der Abschied ergab sich zwangsläufig, doch er gestaltete sich kühl und distanziert, als logische Folge der jahrelangen Entfremdung von Vater und Sohn. Der viel zu frühe Tod der Mutter hatte für beide irreparable Folgen. Immerhin brachte Reverend Gwyon am Bahnhof wider Erwarten doch noch ein paar Worte zustande. Er fragte seinen Sohn nach jenem unvollendeten Portrait seiner Mutter und schenkte ihm zum Abschied zwei wertvolle Ohrringe, die einst seiner Mutter gehörten ...

Die Verlogenheit und die Scheinwelt, in welchen sich gesellschaftliche Strukturen bewegen und aufgebaut haben, sezierte William Gaddis in einem monumentalen Rundumschlag. Rund um die Geschichte des genialen Kunstfälschers Wyatt Gwyon entwarf er in dem 1955 erschienenen Roman ein Gesamtbild des Ist-Zustandes der Gesellschaft bis in die 60er Jahre, eine Bestandsaufnahme mit satirisch-biblischen Ausmaßen. Die Ausdrucksmöglichkeiten, die ihm zur Verfügung standen, betrifft dies ebenso - was vielleicht nicht immer ein Vorteil war ...

Ein verzweifelt-wütender Chronist war er sicher nicht, obwohl Wut beim Verfassen des gewaltigen Werkes eine entscheidende Rolle (von vielen) gespielt haben mag. Vielmehr skizzierte er die Verlogenheit einer Gesellschaft, die von Religion und religiösen Ansätzen bis ins Mark infiziert und in der eigenen Scheinwelt zu ersticken droht, bis ins Detail, und vor allem, vielleicht auch trotzdem, nicht ohne ein gewisses Augenzwinkern. Wie könnte man sonst über den Gekreuzigten in jenem "Bollwerk in Burgos", der, entgegen anderer Überlieferungen, aus Büffelhaut besteht, einen Humor anklingen lassen, "der an eine aus Kabeljau und Äffchen gebildete Meerjungfrau erinnert".

Als ob das Werk nicht schon an Umfang genug hätte, gibt es eine ganze Armada von Textstellen, die es wert sind, nicht nur einmal gelesen zu werden. Sind es nun jene Beschreibungen, die sich auf eine ausgedehnte Pilgerfahrt Reverend Gwyons in Spanien beziehen, "Er sah Menschen und Reliquien, Bewegung und Verfall, die Anhäufung von Zeit in altem Gemäuer ... Wächter, nicht Zeugen ihrer Zerstörung", oder jene Beobachtungen in Paris, die sich auf die "düstere Erektion des Eiffelturms" sowie den "grellen Abklatsch des kaiserlichen Roms" beziehen, und welche die Seine, im Vergleich zum klassischen Tiber, zur "schlichten Landpomeranze" degradiert. Gnadenlose Satire begegnet dem Leser ebenso in Person jener Nonne, die ein Therapeut zu einer "Bärendompteuse" zu bekehren wusste, oder in Sprachkunstwerken, die sich beispielsweise mit dem Lachen des profitgierigen Recktall Brown beschäftigen, und mit einem "Geriesel aus dem Kapillarbereich, verdichtet zur richtungsfalschen Motilität im Magen-Darm-Trakt ..." eine mehrfach pointierte Beschreibung beginnt. 

Es ist nicht (allein) die erfundene Geschichte um den "Fälscher", die fasziniert, sondern die realen Eindrücke, die Gaddis dem Leser anbietet und welche aus seiner ungeheuren Weitsicht heraus an Aktualität bis heute nichts eingebüßt haben. Es entstehen gewaltige Bilder aus einer Gegenwart, die mit einer schaurigen Vergangenheit untrennbar verwoben sind. Ein Sumpf, aus dem man sich nur vordergründig herauswinden kann, der aber dennoch tief im Innersten weiterhin ein Spiel nach eigenem Reglement treibt. Dieses Spiel allerdings trieb der Autor bis zum Exzess. Der Umfang des Werkes lässt ebenfalls erahnen, dass gewisse Längen in Erscheinung treten könnten ...

Diese Vermutungen manifestieren sich in schier endlos-dämlichen (Party-)Konversationen oder ebensolchen indirektuellen Endlosschleifen, "Umwälzanlagen des Belanglosen", einer nur schwer erträglichen verbalen Inkontinenz. Wie könnte man aber eindrucksvoller das Drama um existenzielle Irrungen darstellen, jenes "miefige, piefige Einerlei des Lebens". Wenn schon sinnlose Tragödien inszenieren oder sich als Dauergast zwangsweise in einer solchen zu befinden, dann wenigstens mit Stil. Die Dialoge zwischen den Hauptpersonen und/oder gewissen Projektionen gestalten sich aber zumeist ebenso kopflastig wie langwierig.

Man verliert deshalb den Überblick über die handelnden (na eher die in permanente Konversation verstrickten) Personen, und ebenso jenen, der den verbalen Dschungel ihrer Befindlichkeiten erklären könnte, in welchem sie sich mit unermüdlicher Kraft regelrecht verlieren. Ebenso verliert man als Leser, auch unter Aufwendung größtmöglicher Geduld, die Motivation ihnen zu folgen, zumal man sich im Wirrwarr der Bibelzitate und den Bezügen zur griechischen Mythologie irgendwann rettungslos verläuft. Mein eigener Irrweg war denn auch auf Seite 622 beendet, da ich hier die Notbremse gezogen habe. Dass ich dennoch das Gefühl habe, ein komplettes Buch gelesen zu haben, mag meiner Ansicht entspringen, dass dieses Werk gut und gerne mit der Hälfte des Umfanges auskommen könnte. 

Trotz der alltäglichen Verblendung und den daraus resultierenden Irrwegen kann "Die Fälschung der Welt" keinen wesentlichen Beitrag dazu liefern, irgend etwas zu beeinflussen oder gar zu verändern. Mit jenem Anspruch begann William Gaddis einst zu schreiben, was im Ansatz ebenfalls eine ebenso wesentliche wie dringend erforderliche Triebkraft war, unter dem Strich ein Meilenstein in der Literaturgeschichte sein mag, aber ohne die erwartete Wirkung blieb. Wie auch, wenn die zentrale Botschaft zwar klar verstanden wird, das verworrene Beiwerk jedoch nicht. Wohl deshalb dauerte es auch über vierzig Jahre, bis das Buch erstmals in deutscher Sprache erschien.

Immerhin erreicht das Buch aber etwas anderes, vielleicht viel wichtigeres. Für den Fall, dass wir uns tatsächlich permanent in einer gefälschten Wirklichkeit befinden, möchte ich eigentlich gar nicht wissen, wie sich das Leben im Original anfühlen würde.
So oder so ist nicht klar, wohin es Zweifelnde, auf der Suche nach Definitionen für Gott und die Welt, wirklich treiben würde. Vielleicht ist die Frage nach der (künstlerischen) Identität nichts anderes als eine weitere Sackgasse auf der Suche nach dem, was man nie finden wird. Die allumfassende Erkenntnis wird sich also noch eine Weile Zeit lassen (warum auch nicht), das Lesen im ersten Roman von William Gaddis kann jedoch, zumindest stellenweise, wieder als unbändige Lust (unlogisch - ich weiß!) empfunden werden. Und das ist Veränderung genug.

 

Thomas Lawall - Februar 2014

 

 

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