Die Engelmacherin von St. Pauli
von Kathrin Hanke
242 Seiten © 2018 - Gmeiner-Verlag GmbH www.gmeiner-verlag.de ISBN 978-3-8392-2300-0
St. Pauli. Reeperbahn. Anfang 1903. Dirnen an jeder Ecke "präsentieren sich unschicklich". Fräulein Klotsche bewegt sich unsicher in den Gassen der schäbigen Gegend und weiß nicht so recht, wie ihr geschieht. Als Dienstmädchen steht sie mit ihrem "außerehelichen" Kind schlecht da. Ihren Wilhelm Karl brachte sie unter erbärmlichen Verhältnissen am 19.10.2002 auf die Welt.
Unterstützung vom Kindesvater ist nicht zu erwarten. Es war eine Bekanntschaft für eine Nacht. Nicht einmal der Name des dänischen Matrosen ist ihr bekannt, der inzwischen Hamburg wahrscheinlich längst wieder verlassen hat. Nun ist sie alleine mit dem Kind, muss aber arbeiten gehen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Zum Glück wurde sie von ihrer "Herrschaft", wie allgemein üblich, nicht sofort auf die Straße gesetzt. Eine Bedingung gibt es trotzdem. Das Kind muss abgegeben werden. Deshalb befindet sich Fräulein Klotsche jetzt auf dem Weg zu Elisabeth Wiese, einer Hebamme, Pflegemutter und Vermittlerin für Pflegeeltern, nachdem sie im "General-Anzeiger für Hamburg-Altona" inserierte, "ein Kind zu eigen abgeben" zu wollen ...
Paula (geb. 1882 oder 1886), Elisabeth Wieses uneheliche Tochter, ist zurück aus London, wohin sie einst vor ihrer Mutter flüchtete. Eine Kindheit im üblichen Sinne hatte sie nicht. Es war eher ein Leidensweg. Ende 1901 schaltete ihre Mutter regelmäßig Zeitungsanzeigen, welche sich an "edeldenkende Herren" richteten. Eine junge Dame würde um "eine Unterstützung von 30 Mark gegen dankbare Rückzahlung" bitten.
Nunmehr zeigt Paula Verständnis für die Aktivitäten ihrer Mutter, die sich insgesamt nur aus wirtschaftlicher Notwendigkeit ergeben hätten. Und schließlich habe sie in ihrer Eigenschaft als uneheliches Kind diese Not noch vergrößert. Da war es nur recht und billig, etwas zur finanziellen Situation beizutragen. Nun ist Paula selbst schwanger und irgendwie würde sich schon alles richten. Sie hätte auf ihre bösen Vorahnungen hören sollen ...
Elisabeth Wieses Schuld konnte in den fünf ihr zur Last gelegten Kindsmorden nicht eindeutig bewiesen werden. Jedoch verstrickte sie sich während der Verhandlung derart in Widersprüche, dass die Taten zumindest als sehr wahrscheinlich erscheinen. Nachzulesen in den Aufzeichnungen des deutschen Journalisten und Gerichtsreporters Hugo Friedländer (1847-1918).
Die Dokumentation des Verfahrens gegen Elisabeth Wiese in "Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung" dürfte eine wesentliche Quelle für die vorliegende Kriminalgeschichte sein. Um die diabolische Doppelmoral, welche die Aussagen der Angeklagten umgibt, hat Kathrin Hanke sehr geschickt eine Geschichte konstruiert, die in ihrer Gesamtheit Person und Leben der "Engelmacherin" ebenso eindrucksvoll wie glaubwürdig darstellt.
Die Geschichte zeichnet darüber hinaus auch eine Milieustudie der damaligen Unterschicht, insbesondere im Hinblick auf die Situation der Frauen, welche nicht selten unter heute (in unseren Breiten) unvorstellbaren Bedingungen ihre Kinder auf die Welt bringen mussten. Friedländer formulierte es auf den Punkt: "Das Fehlen von Findelhäusern in Deutschland hat schon so manchem kleinen Wesen das Leben gekostet."
Die Autorin belässt es nicht bei ihrer Geschichte, sondern belegt im Anhang ihre Quellen. In einem Personenverzeichnis ist nachzulesen, welche Personen und Umstände es tatsächlich gegeben hat. Auch ein Nachwort fehlt nicht. Hier schildert Kathrin Hanke weitere Stationen ihre Recherche. Eine Besonderheit dürfte ihr abschließender Aufruf sein, ihr eventuell noch vorhandene Dokumente jeder Art zukommen zu lassen, die es vielleicht ermöglichen könnten, der Wahrheit "noch ein Stückchen mehr gerecht zu werden".
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