Der zweite Blick
von Bernadette Németh
204 Seiten 1. Auflage © ACABUS Verlag, Hamburg 2010 www.acabus-verlag.de www.xing.com/profile/Bernadette_GrohmannNemeth ISBN: 978-3-941404-70-0
"Liebe auf den ersten Blick ist ungefähr so zuverlässig wie Diagnose auf den ersten Händedruck" meinte George Bernard Shaw. Elke Sommer brachte es ebenfalls auf den Punkt: "Liebe auf den ersten Blick ist die Entschuldigung der Männer, dass sie es eilig haben." Auch Gino Cervi äußerte eine sehr persönliche Sicht der Dinge: "Die Liebe auf den ersten Blick ist die am weitesten verbreitete Augenkrankheit." Nun geht es in der Kurzgeschichten-Sammlung keineswegs (nur) um die Liebe auf den ersten Blick. Bernadette Grohmann-Németh belegt mit ihren 17 Kurzgeschichten (leider ohne Inhaltsverzeichnis) vielmehr die Tatsache, dass die Dinge meist ein anderes Gesicht zeigen, wenn man sie auf den zweiten Blick betrachtet.
Die Wasserpolizei fordert Verstärkung an. Der Kapitän des Ausflugsdampfers Astoria ist außer sich und stellt seinen Co-Kapitän zur Rede. Sie waren von Budapest aus gestartet und hatten nun einen österreichischen Brückenpfeiler gerammt, nachdem zwei Landesgrenzen unbemerkt passiert worden waren! Es interessiert ihn brennend, wie dieses Kunststück zu schaffen war. Das Schiff sinkt und alle Passagiere können sich auf die Rettungsboote retten. Fast alle, denn Ildikó, die Frau von Jóka, dem Kapitän, ist verschwunden. Weitere Komplikationen drohen durch die österreichische Wasserschutzpolizei. Kommandant Weber vermutet auf "den ersten Blick" illegale Flüchtlinge. Beim ersten Kontakt per Megaphon verdichtet sich der Verdacht. Jóka berichtet, dass keine ungarischen, sondern persische Staatsbürger an Bord seien. Sie wollten auf dem Schiff ihr Neujahrsfest feiern. Weber sieht auf seine Uhr. Es ist der 22. März. Jetzt wird er richtig sauer, denn die wollen ihn an der Nase herumführen. Womöglich sind es sogar Terroristen. "Now-Rouz" ist mit 25 Seiten die längste Geschichte ...
... doch nicht weniger dramatisch geht es in den kürzeren zu. Nur knapp fünf Seiten beansprucht "Der Sprung". "Axel" ist bestens gerüstet für den Wettkampf am Wochenende. Viele Jahre hatte es gedauert, bis er aus dieser Höhe die Schraube und den dreifachen Salto zeigen konnte. Doch seine Angst holt ihn ein ... und die Vergangenheit. Er denkt an die ehemalige Wohnung in Ostdeutschland, das Hochhaus, "dessen Fenster seinen Bruder ausgespuckt hatte wie einen unliebsamen Bissen Brot"! In ein Spiel versunken, bemerkte er seinen kleinen Bruder nicht, der auf das Fensterbrett geklettert war. Er sollte doch auf ihn aufpassen ...!
Vergesslichkeit kann schlimme Blüten treiben und Eselsbrücken können lustig sein. Näheres erzählt uns Bernadette Grohmann-Németh in "Komm Herzi Allrad", einer der originellsten Geschichten dieser Sammlung. "Nur ein Bild" schildert uns eine Episode aus dem Leben eines Malers, der die Konsistenz der Farben ertasten kann, "wie die Konsistenz der Gefühle". Die titelgebende Geschichte schließlich spielt in Kreta. "Dolores" ist krank. Eigentlich hat sie keine Probleme, wenn nur diese demütigende Schuppenflechte nicht wäre. In Iraklion lernt sie "Ben" kennen, der das Labyrinth ihrer Gefühle ein wenig durcheinanderbringt. Auf ihre Frage, ob er schon einmal hier gewesen sei, antwortet er: "Ich habe mich in Kreta auf den ersten Blick verliebt." Die Frage ist, wie man diesen Satz verstehen soll. Auf den ersten Blick jedenfalls nicht ...
Weitere Themen sind ein völlig neues Waffensystem, Ares genannt. Eine "saubere" Waffe, die auf Basis von Mikrowellen funktioniert. Eine wahrhaftige Revolution in der Waffenindustrie. Christopher Thompson ist mächtig stolz, bis sich sein Leben schlagartig ändert. Auch und insbesondere "Zellen" können alles auf den Kopf stellen. Ganz anders wieder "Das Meisterwerk", welches im "fernen Lande Ning" angesiedelt ist. Der König ist traurig - wie schon so viele Könige es waren. Steinreich, aber nicht glücklich. Die Weisen wissen keinen Rat und die Leibärzte stehen ebenfalls vor einem Rätsel - was leider einen nach dem anderen das Leben kostet. Den wahren Grund seiner Traurigkeit ahnt jeder, doch niemand wagt es, den Verdacht auszusprechen. Es ist seine Tochter, die ihm so viel Kummer bereitet. Bernadette Grohmann-Németh hat bei der Namensvergabe an die Protagonisten Feingefühl und Sinn für Humor sanft ausbalanciert und somit auf den ersten Blick verschleiert, dass die Geschichte wohl nicht ganz so ernst zu nehmen ist. Erst auf den "zweiten Blick" erkennt man die tiefere Bedeutung der Namen. So heißt die überaus hübsche Tochter des Königs von Ning "Sie-Hin". Sein Leibarzt hört auf den Namen "Ist-So", dessen Vorgänger der findige "Was-Das" war, der einst das Geheimnis der giftigen Katzen entdeckte. Einen berühmten Vasengießer der "Ning"-Dynastie lernen wir ebenfalls kennen. Es ist "Wo-Hin" und sein Sohn "Wo-Zu", dem im Lauf der Ereignisse noch überaus Dramatisches widerfahren soll.
Nicht weniger aufregend gestaltet sich die Lebensgeschichte von Conchita Rojas, jener "Heiligen", die in Monteguapo die legendäre Urwaldpension errichtet hatte. In einem kleinen Dorf geboren, ahnt sie nichts von ihrer Zukunkft, die ihr fast das Leben kosten würde. Sie ist die Tochter von Pater Alberto und niemand auf der Welt soll das je erfahren, weshalb man die Mutter auch schnellstmöglich und unter Todesandrohungen in die Tiefen des Urwalds vertrieb. Durch üble Nachrede wird die Heranwachsende denunziert und man versucht, sie in ein Kloster zu schaffen, was nicht gelingt. Die einsetzende Regenzeit kommt ihr zu Hilfe und sie stürzt sich flüchtend in eine Schlammlawine ...
Mit ungeheurem Ideenreichtum, viel Sprachwitz, dem Hang zu originellen, fast schrägen Umschreibungen, einer ebenso ausgeprägten wie unvoreingenommenen Beobachtungsgabe, Weltoffenheit, tiefsinniger Zwei- und Mehrdeutigkeit sowie einer universalen Liebe zu den Menschen, schafft es die Autorin, den Leser immer wieder zu bewegen, zu überraschen und zu einer Prüfung der eigenen An- und Einsichten zu veranlassen. Spielen auch die unterschiedlichsten Charaktere, verteilt über die ganze Welt und verschiedene Zeitalter, gänzlich gegensätzliche Rollen, eint die Begebenheiten doch der "rote Faden" - Liebe, Leidenschaft und den Menschen selbst, seine Taten, Gedanken und Gefühle niemals auf den ersten Blick beurteilen zu können. "Das Problem ist immer, dass man vom anderen so wenig weiß, wie der andere von einem selbst."
Den Rahmen für die Geschichtensammlung bildet eine übergeordnete Handlung. Bernadette Grohmann-Németh geht damit über die Präsentation bzw. Aneinanderreihung von Storys weit hinaus. "Perdita" schreibt die Geschichten auf, in jenem Krankenhaus in Costa Rica. Man brachte sie dorthin, weil sie nach einem schweren Busunfall ihr Gedächtnis verloren hat. Aus einem Bach gefischt, kann sie sich weder an ihren Namen noch an ihre Herkunft erinnern. Nur wenige Sätze weiß sie zu formulieren, beispielsweise "Hier riecht es nach Angst" und "Ich habe alles ruiniert". Aber schreiben kann sie offenbar, weshalb ihr Miguel, ein überaus einfallsreicher und einfühlsamer Pfleger, einen Kugelschreiber und einen Schreibblock überlässt ...
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