Der ungeladene Gast
von Sadie Jones
320 Seiten © 2012 by Sadie Jones © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Deutsche Verlagsanstalt, München www.dva.de ISBN 978-3-421-04555-3
Charlotte Torrington ist entsetzt. Sie hatte andere Pläne und sich den Besuch des reichen John ("Farmer") Buchanan ganz anders vorgestellt. Schließlich weiß jeder, dass sich sein Spitzname eher auf seinen Vater bezieht, der tatsächlich ein Farmer war. Sein Sohn hingegen ist inzwischen erfolgreicher Unternehmer und Fabrikant. Zum zwanzigsten Geburtstag von Emerald, Charlottes ältester Tochter, gibt er sich überraschend die Ehre. Sogar ein Geschenk bringt er mit, was zu nicht unerheblichen Komplikationen führt. Das kleine Kästchen mit der Satinschleife verleitet Emerald zu der Annahme, dass gewisse Verpflichtungen damit verbunden sein könnten. Unmittelbar versucht sie dies klarzustellen, worauf John Buchanan außerordentlich galant reagiert und erklärt, das es ihm allein um freundschaftliche Verbundenheit geht.
Emerald möchte vor Scham in den Boden versinken ... und ihre Mutter wohl vor Ärger und Enttäuschung. Das einzige, was sie nach dem Treffen interessierte, war, ob John ihr einen Antrag gemacht habe. Emerald stellt unmissverständlich ihre dahingehende Ablehnung klar sowie das Desinteresse an einer Romanze seinerseits. Charlotte ist nunmehr gezwungen, jede Hoffnung auf eine Verbindung der beiden aufzugeben ... und bricht zusammen. Haus "Sterne" scheint nunmehr verloren zu sein. Ihr verstorbener Mann Horace Torrington hat einen Schuldenberg hinterlassen und der neue Gatte Eward Swift ist auf dem Weg, sich bei einem ungeliebten Zeitgenossen Geld zu leihen. Die Lösung aller Probleme wäre die Verheiratung ihrer Tochter mit dem reichen Industriellen. Schließlich wäre es doch "nur eine Ehe" ...
Die letzte Möglichkeit, das Ruder herumzureißen, wäre also doch der bei den Kindern so verhasste Stiefvater. Kann er zum Retter werden?
Die Lage auf dem insolventen Landsitz der Familie Torrington verkompliziert sich nicht unerheblich, als ein in der Nähe entgleister Zug für Verwirrung sorgt. Die Katastrophe auf einer Nebenstrecke zwingt die Familie, Überlebende aufzunehmen und zu versorgen. Die bis ins kleinste Detail geplante Geburtstagsfeier von Emerald stört dies natürlich in erheblichem Maß, doch es soll noch schlimmer kommen. Der ebenfalls verunglückte Charlie Traversham-Beechers stellt sich nicht nur als Sprecher der unerwarteten Gruppe dar, sondern scheint sich auch in der Familiengeschichte der Torringtons bestens auszukennen. Es kommt zu einem handfesten Skandal ...
... und zu einem in jeder Hinsicht unerwarteten Finale!
Sadie Jones nähert sich dem Höhepunkt auf leisen Sohlen. Sie nimmt sich sehr viel Zeit, die Familiengeschichte und deren Mitglieder vorzustellen. Man glaubt schließlich, die Torringtons sehr gut zu kennen, bis sich das Blatt wendet. Bis dahin unterhält ihr ebenso intelligenter wie spitzfindiger Schreibstil auf das Allerbeste. Unheimlich-bedrohliche Momente weiß sie ebenso einzusetzen, wie einen Humor der ganz trockenen Sorte.
Über nicht wenige kunstvoll formulierte Passagen kommt man insofern ins Stolpern, als man einfach nicht weiterlesen möchte, um den jeweiligen Zeilen erhöhte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Immer und immer wieder lesen möchte man Emeralds Erinnerungen an ihren Vater. Der letzte Geburtstag, den er erleben durfte, war ihr sechzehnter. Bei einem Kompliment, ihre Schönheit betreffend, wandte er sich ab, denn sie sollte seine Tränen nicht sehen. "Es hat nichts mit dir zu tun. Sondern nur mit dem Vergehen der Zeit."
Auch bei Florence Trieves, die als Haushälterin eine weitere tragende Rolle in "Der ungeladene Gast" besetzt, lohnt eine genauere Beobachtung, insbesondere wenn sie sich in ihrem Allerheiligsten - der Küche - Gedanken über die Komposition verschiedener Gerichte und Zubereitungen, in Verbindung mit den zur Verfügung stehenden Zutaten, macht. Sehr anregend auch die Gedankenspiele des Fabrikbesitzers John Buchanan, der sich unerwartet empfänglich für die "weiblichen Attribute einer Hauswirtschafterin in mittleren Jahren" zeigt, und diese Betrachtungen mit jenen vergleicht, die er als Heranwachsender empfand und zu formulieren wusste. Herrlich!
Ein Buch, das zu Dummheiten motiviert, nämlich endlich mal wieder eine Nacht durchzulesen, und sich nach viel zu wenig Schlaf mühsam durch den Alltag zu quälen ... es letztlich aber keineswegs zu bereuen!
|