Der Tod ist ein Philosoph
von Tobias Hürter
160 Seiten © Piper Verlag GmbH, München 2013 www.piper.de ISBN 978-3-492-05580-2
"Einmal noch" dachte sich Tobias Hürter am frühen Morgen des 1. November 2011, als er mit zwei erfahrenen Münchner Bergsteigern aufbrach. Eigentlich wollte er nach den zahlreichen Gipfelbesteigungen der zurückliegenden Monate keine größeren Touren mehr unternehmen, doch das schöne Herbstwetter motivierte zu einer weiteren Tour. Zudem brauchte man einen "Seilträger" für die Klettertour auf die Westliche Marienbergspitze.
In den Tiroler Alpen angekommen, ging es von einem Parkplatz in Richtung Mieninger Kette auf die vom Touristenschwarm eher gemiedene Strecke zum Nordwestgrat der Marienbergspitze. Eine Seilsicherung schien nicht notwendig zu sein, doch in etwa 2500 Meter auf einem schmalen Felsgrat geschah es. Ein größerer Felsbrocken des porösen Kalkgesteins löste sich, der Autor verlor das Gleichgewicht und stürzte in die Nordflanke der Marienbergspitze.
Schon beim ersten Aufschlag brach der Oberarm, doch es sollte nicht der letzte Bruch sein. Insgesamt 37 Meter ging es in die Tiefe, bis der Sturz im Auslauf einer "Schuttreiße" ein mehr oder weniger glückliches Ende fand. Sechs Sekunden freier Fall sollten das Leben von Tobias Hürter für immer prägen.
Erstaunlicherweise hatte er während des Sturzes nicht die geringste Angst, was der Rezensent insofern bestätigen kann, als er dereinst bei einer Tour am Schesaplana auf einem vereisten Schneebrett ebenfalls stürzte, in die Tiefe raste und sich kurz vor einer fast senkrecht abfallenden Passage an einem Felsblock mit dem linken Arm festhalten konnte. Angst hatte ich im Angesicht des Todes ebenfalls nicht die geringste.
Tobias Hürter empfand den Sturz im Nachhinein als "urphilosophischen Zustand", auch wenn während des Unfalls "nichts Bemerkenswertes" in ihm geschehen sei, "weder spirituell noch intellektuell". Er war schlicht ein Beobachter, bei klarem Verstand, weshalb er offen war für eine Erkenntnis, die er "bisher in einem gut umzäunten Gehege gehalten hatte": Sterblich zu sein.
Was der Autor nach den Beschreibungen des Unglücks und dessen körperlichen Folgen an weitergehenden Gedanken formuliert, ist für mich eine der interessantesten Auseinandersetzungen mit dem Unvermeidlichen. Bevor der Autor jedoch seine ganz persönlichen An- und Einsichten schildert, zeichnet er einen geschichtlichen Überblick, den allgemeinen Umgang mit dem Tod betreffend. Kirche und große Philosophen entwickelten eine ganze Reihe von hochinteressanten Ansätzen, dessen Vertreter grob in zwei Lager unterteilt werden können.
Während Sokrates, Platon und (späteres) Christentum von einer Seele sprechen, die, von der sterblichen Hülle befreit, für immer weiterexistiert, sehen Epikur, Lukrez und die moderne Naturwissenschaft die Seele als untrennbar mit der Körperlichkeit verbunden und in gegenseitiger Abhängigkeit. Im Gegensatz zum Dualismus, der Körper und Seele als grundsätzlich verschiedene Bestandteile begreift, sehen die Anhänger des Physikalismus, zu welchen sich der Autor zählt (der Rezensent ebenso) die Seele schlicht als eine "Körperfunktion".
Tobias Hürter ist sich für ein ausführliches Für und Wider nicht zu fein, bleibt am Ende jedoch bei seinen Positionen und weiß diese nüchtern und sachlich zu belegen. Stellvertretend für zahllose Erwägungen ist für mich seine sehr zentrale These, eine "rein abstrakte Existenz für keinen erstrebenswerten Zustand" zu halten. "Eine unverkörperte Seele lebt nicht mehr. Sie erlebt nichts mehr. Sie erkennt nichts mehr."
Was daraus folgt, ist ein anderer Umgang mit dem Leben. Denn danach kommt nichts mehr. Ein schwerer Unfall kann diesen Effekt verstärken. Man war der absoluten "Deadline" sehr nahe. Das weitere Leben wird Tag für Tag zum Geschenk. Aus dieser Einsicht heraus wirkt für Tobias Hürter "nichts belebender, als der Gedanke an den Tod". Denn dann ist es wirklich vorbei.
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