Literatur

Der Richter und sein Opfer

von Thomas Darnstädt


352 Seiten
© Piper Verlag GmbH, München 2013
www.piper.de
ISBN 978-3-492-05558-1



"Ich will mein Leben zurück" sagt Harry Wörz. Er wurde zu Unrecht verurteilt, für ein Verbrechen, das er nie begangen hat. Der Mordversuch an der Polizistin Andrea, der weitreichende Folgen für sie hatte, wurde ihm zur Last gelegt. In einem Wiederaufnahmeverfahren wurde er durch ein Urteil des Bundesgerichtshofs freigesprochen. 13 1/2 Jahre hat die Wahrheitsfindung gedauert. Sein Leben ist zerstört. "Man hat mir alles gestohlen, alles, nicht nur meinen Sohn, Eltern, Verwandte, Bekannte." 42.000 Euro Haftentschädigung hat er für 1500 Tage Haft erhalten. Für Rechtanwälte sind noch 200.000 Euro zu zahlen. Um jeden Euro muss er mit Anwälten ringen, immense Verdienstausfälle sind zu beklagen, Arztrechnungen müssen beglichen werden, und wie beziffert man den Wert eines zerstörten Lebens ...?

Viele Jahre kann es dauern, bis die Wahrheit ans Licht kommt. "Dann aber kommt sie mit voller Wucht." Am 10. März 2009 wurden an der Donau-Staustufe Bergheim Unregelmäßigkeiten entdeckt. Taucher entdeckten in fast vier Meter Tiefe einen halb im Schlamm versunkenen Wagen. Bei der Bergung wurde eine halb verweste Leiche gefunden. Bald wurde herausgefunden, um wen es sich bei dem Toten handelt, doch es gab ein Problem. "Von Rechts wegen" durfte Rudolf Rupp gar nicht an dieser Stelle gefunden werden. Eigentlich erwartete man aufgrund bestimmter "Tatsachen" in keinem Fall, den Landwirt jemals wieder zu finden. Für jenes vermeintliche Verbrechen wurde eine ganze Familie rechtskräftig verurteilt. Das Urteil wurde gar vom Bundesgerichtshof bestätigt ...!

Thomas Darnstädt schildert auch Beispiele aus dem "schwärzesten Kapitel der Strafjustiz": Kindesmissbrauch. Er lässt einerseits keinen Zweifel daran, dass insbesondere Kinder und Jugendliche wirksame Schutzmechanismen und -organisationen benötigen, doch in diesem Buch geht es um die traurige Kehrseite der Medaille. Hier muss der Rezensent zugeben, ein solches Schlachtfeld nicht erwartet zu haben, geschweige denn für möglich gehalten zu haben.

"Übereifrige Kinderschutzorganisationen" und ebensolche Jugendhelfer sind offenbar in der Lage, den Spieß umzudrehen, ohne sich dahingehend Gedanken zu machen, was sie damit anrichten können. Keineswegs schlecht verdienende "Opferanwälte" würden den "Feldzug von Kinderschutzorganisationen" unterstützen, sowie "gekaufte oder eifernde Mediziner". Das Landgericht Hannover verurteile 2004 zwei Männer zu langjährigen Haftstrafen. Die siebzehnjährige Jennifer W. belastete ihren Vater Karl-Heinz W. und dessen Freund Ralf schwer. Drei Jahre zuvor hätten sie die damals Vierzehnjährige mehrfach und abwechselnd sexuell missbraucht sowie auf übelste Art und Weise körperlich misshandelt. Vom Bundesgerichtshof wurde das Urteil bestätigt. Erst 2010 wurden die Männer vom Landgericht Lüneburg freigesprochen. Jennifer W. hatte alle Vorwürfe frei erfunden ...!

Diese Geschichte erzählt Thomas Darnstädt von Anfang an. Und es ist nicht die einzige dieser Art. Leserinnen und Leser fühlen sich wie im falschen Film. Offenbar ist es in diesem System möglich, völlig Unschuldige den Schlimmsten aller Anklagen auszuliefern und sogar noch rechtskräftig zu verurteilen. Nicht einmal selten scheinen diese Fälle zu sein, was der Autor in einer haarsträubenden Aufzählung zu belegen weiß.

Den blamablen Gipfel erreicht er in der Schilderung des größten Missbrauchsfalles der deutschen Rechtsgeschichte. Das Mainzer Landgericht verhandelte ab 1994 in vier Prozessen einen vermeintlichen Massenmissbrauch in Worms. Mehr als sechzehn Kinder sollen jahrelang von insgesamt 27 Erwachsenen missbraucht worden sein. Wieder sollen eine "übereifrige Kinderschützerin, willfährige Mediziner und naive Juristen" einen nicht vorhandenen Tatbestand zu einem handfesten Skandal "aufgeblasen haben", beginnend mit fragwürdigen Befragungsmethoden ("Methode Fürniss") der besagten Kinderschützerin.

Der Familienkrieg endete mit vier Freispüchen und dennoch in einem Desaster. Die Prozessdauer von zweieinhalb Jahren hinterließ nur Verlierer. Das Blatt wendeten aber nicht Richter, sondern "der Papst der forensischen Psychologie" Max Steller. Er entkräftete alle Befragungsergebnisse der Kinder, indem er in diesem Zusammenhang ausführte, dass Kinder durchaus das bestätigen, "was man vorher in sie hineingerufen habe". Insofern seien sie "einem suggestiven Leidensweg erlegen".

Einmalig nicht nur dieser Fall, sondern auch eine öffentliche Entschuldigung durch den Vorsitzenden der Strafkammer Hans Lorenz, für den "langen Leidensweg der Familien". Schließlich habe es den Massenmissbrauch in Worms "nie gegeben"! Möglicherweise schießt der Autor aber mit weitergehenden Bemerkungen etwas über das Ziel hinaus, wenn er das Bekenntnis des Richters, die Beweislage falsch eingeschätzt zu haben, als Abrechnung "mit dem ganzen Kriegsapparat der Kinderschutzjustiz" definiert.

Erschreckend und beunruhigend sind seine Ausführungen dennoch, denn ganz offenbar kann es tatsächlich jeden treffen! Ein naiver Glaube an eine fehlerfreie Jusitz scheint illusorisch zu sein. Trotz aller Wirren und das Wissen um massive Probleme im deutschen Strafrechtssystem belässt es Thomas Darnstädt nicht bei einseitigen Anklagen. Vielmehr bietet er eigene Ansätze und Lösungsstrategien. Niemand sollte sein Leben schuldlos hinter Gittern verbringen müssen. Insofern drängt die Zeit nach Veränderung ...

... was im Fall des Gustl Mollath einen ganz aktuellen Bezug aufweist. Der 2006 von der bayrischen Justiz für verrückt Erklärte, wurde in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Thomas Darnstädt schildert in "Der Richter und sein Opfer" den Fall und spricht von einem Justizirrtum. Dies scheint sich jetzt zu bestätigen, denn inzwischen ist Mollath frei. Das Oberlandesgericht Nürnberg ordnete Anfang August die Wiederaufnahme des Verfahrens an.

 

Thomas Lawall - August 2013

 

 

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