Der Rest der Zeit
von Bernadette Németh
328 Seiten © 2017 Verlag Wortreich www.verlag-wortreich.at ISBN 978-3-903091-23-8
Die aktuelle Situation entwickelt sich für Tünde immer mehr zu einem Alptraum. Als hätte sie in ihren zurückliegenden Jahren nicht schon genug ertragen müssen. Sie denkt an ihre Schwangerschaft, als wäre es gestern gewesen. Während ihrer Arbeit im Spital begegneten ihr täglich "die hohläugigen Frauen nach den Fehlgeburten". Ihr als Ärztin könnte so etwas natürlich nicht passieren.
Doch eines Tages änderte eine Ahnung, "leise, wie der Flügelschlag des Todes", alles. Die Hebamme tat, was sie tun musste und sprach ihr Trost zu, doch Tünde war sich sicher, keinen Kontakt mehr zu ihrem Baby zu spüren: "Es ist so still, als sei eine Funkverbindung gekappt." Der Tod ihres ungeborenen Kindes war, nach dem Tod ihres Vaters, die zweite emotionale Breitseite in jenem Jahr.
Doch auch die Gegenwart zeigt für Tünde keine Gnade. Nach einer Tomographie wird ein "großer medialer Bandscheibenvorfall" diagnostiziert. Sie registriert, fast schon in Trance, die Bilder ihrer Wirbelsäule, die wie ein Hochhaus aussieht, "dessen oberes Stockwerk gerade einbricht". Das Rückenmark ist gequetscht und geknickt, weshalb sofort operiert werden muss. Erste Lähmungserscheinungen bringen Tünde an den Rand der Verzweiflung ...
Und Leserinnen und Leser ebenfalls, denn es hat schon etwas von einem beängstigenden Realismus, wie Bernadette Németh Situationen beschreibt und damit gleichzeitig ihre Hauptdarsteller charakterisiert. Die Kraft ihrer Metaphern entwickelt eine Vehemenz, die körperlich spürbar ist.
Doch die zweiunddreißigjährige Ärztin ist keineswegs die einzige Hauptfigur des Romans. In zahlreichen Rückblenden stellt uns die Autorin Tündes Geschwister Adam und Melinda vor. Auch den Eltern spricht sie eine maßgebliche Rolle zu, indem sie deren spannende Lebensgeschichte erzählt, die in Ungarn begann.
Adam und Melinda sind ebenfalls nicht auf der Sonnenseite des Lebens unterwegs. Bernadette Németh schildert deren Leben im partnerschaftlichen Bereich als ein Sammelsurium von Irrtümern, Missverständnissen und Bergen aus unausgesprochenen Wünschen, Vorstellungen und persönlichen Irrwegen. Trotz den Gebirgen aus Lebenslügen und den sich daraus ergebenden falschen Hoffnungen und Erwartungen kommen aber Humor und knisternde Erotik nicht zu kurz.
Ernüchternd und erschreckend erscheint das gesamte Szenario dennoch, doch die erzählerische Kraft der Autorin steht als Gegenstück dazu. Man mag nicht glauben, dass alles im "Der Rest der Zeit" Fiktion ist. Der Rezensent möchte sich deshalb etwas aus dem Fenster lehnen und unterstellen, dass hier eine ganze Menge "echtes" Leben eingeflossen ist. Egal, ob es sich nun um Zustände in gewissen österreichischen Krankenhäusern der jüngeren Vergangenheit handelt, wo die Geduldsfäden von Turnusärzten eine fast unverständliche, in jedem Fall aber überdimensionale Stabilität erforderten, die Flucht des siebzehnjährigen Vaters zur Zeit des Ungarischen Volksaufstandes 1956, Erinnerungen an Jugend und Kindheit, und all den menschlichen Erfahrungen rund um eigene Kinder, Berufsleben und Partnerschaft. Vielleicht dürfen sogar autobiografische Versatzstücke vermutet werden.
Während andere Bücher der reinen Unterhaltung dienen, geht die österreichische Journalistin, Ärztin und Schriftstellerin einen beschwerlicheren Weg. Das ist keine flachgestrickte, ach so leicht zu lesende Geschichte, sondern man darf allenthalben über die Stärke des schon zitierten Ausdrucks staunen. An die Grenzen des Erträglichen führen hochsensibel formulierte Einblicke in den Krankenhausalltag, insbesondere wenn sie die Türen zur Kinderchirurgie öffnen.
Lachen ist trotzdem erlaubt, beispielsweise über jenen ungarischen Verkehrspolizisten und seiner Forderung nach einem "Först-Ä-Kit", die zwei Seiten später nachdrücklich geschilderte Fahrtwindstudie, oder einem Beischlaf, nach Süden ausgerichtet und mit einer Akupunkturnadel im Kopf.
Zu viel verraten darf und soll man ja nicht, aber einige Andeutungen müssen noch erlaubt sein. Das Buch lehrt uns viel über "Biotope voller Krankheit und Tod", "Sollbruchstellen der Harmonie" oder über "Kapriolen des Schicksals", welches ein "Taschenspieler" ist. Großes Kino entsteht auch, wenn die junge Turnusärztin Tünde ihren ersten Toten auf Station beklagen muss. Was sie sich an Vorstellungen und Ängsten einst vorstellte, zeigt in der realen Situation überraschenderweise ein völlig anderes Gesicht.
Als Manko des Buches könnte man die (fast zu) ausführlichen Schilderungen der beinahe exzessiven Verstrickungen der Protagonisten in ihre Befindlichkeiten bezeichnen. Hin und wieder fragt man sich, welche Sackgassen denn nun als nächstes beschritten werden, ohne dass man endlich einmal etwas ändert, um dem Sumpf aus permanenten Schuldgefühlen zu entkommen.
Die marginalen Einwände ändern aber keineswegs etwas am Fazit. "Der Rest der Zeit" wagt eine Sektion versteckter, familiärer Zusammenhänge, die alles und jeden unmittelbar steuern, die Offenlegung einer Art Fahrplan für Lebensgestaltungen und -entwicklungen. Spannend ist herauszufinden, inwieweit wir Herr unserer Sinne sind oder vorgezeichneten Skizzen folgen. Kann ein Ausweg im Erkennen dieser Muster liegen?
Im hektisch-oberflächlichen Literaturbetrieb und dem Ozean von Neuerscheinungen ein wahrer Lichtblick und ein Fels in der Brandung.
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