Literatur

Der Hipster von der traurigen Gestalt

von Daniel Gascón


192 Seiten
© der deutschen Ausgabe:
Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2023
© der Originalausgabe: Random House, Barcelona 2020
www.kunstmann.de
ISBN 978-3-95614-562-9



Wokeness ist genauso umstritten wie angesagt. Einen typischen Vertreter der Anhänger der Bewegung, die sich jenem Begriff verpflichtet fühlen, lernen wir in der Figur des "Hipsters" Enrique Notivol kennen.

Die im Klappentext des Buches enthaltene Inhaltsangabe hört sich lustig an, und der Inhalt ist es dann, mit Einschränkungen, auch. Nicht zuletzt aus sehr persönlichen Gründen verschlägt es den "modernen Don Quijote" in das spanische Dorf La Cañada. Er wohnt bei seiner Tante, die ihn kulinarisch verwöhnt und immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbringt.

"Die einfachen Leute sind klasse."

So klasse dann auch wieder nicht, denn Enrique hat Großes im Sinn. Voller Enthusiasmus sieht er gar einem "bahnbrechenden Projekt" entgegen, "einer noblen, transversalen Initiative". Hier und da ein paar Änderungen im geregelten Alltag der Dinge sollten doch vorerst reichen, etwas Schwung in verstaubte Regularien und Gewohnheiten der Alteingesessenen zu bringen.

Ob sich aber die außerordentlich progressiven Ansichten Enriques durchsetzen können, muss sich erst noch erweisen. So ist der Hipster beispielsweise der Ansicht, "dass die romantische Liebe ein perverses, heteropatriarchalisches Konstrukt" ist, dass die Menschen "Gefangene der Landwirtschaft" sind oder dass im Fußball zwei gegnerische Mannschaften völlig unproduktiv sind. Es wäre "pädagogisch doch ungleich wertvoller", wenn alle zum Erreichen eines gemeinsamen Ziels zusammenarbeiten würden.

Dies sind dann die großartigen Stellen, doch wer sich in spanischer Literatur, und der Geschichte des Landes ganz allgemein, nicht auskennt, oder ohne entsprechende Studien in der Hinterhand auskommen muss, dem bleibt oft ein tiefergehendes Verständnis verborgen. Dann ermüden zahlreiche Querverweise rasch, wobei auch die knochentrockenen Charakterisierungen der Haupt- und Nebendarsteller das Interesse nicht immer bei der Stange halten können.

Diese bleiben mehr oder weniger ohne Profil und Wiedererkennungswert, weshalb man sie ständig durcheinander bringt, verwechselt oder im schlimmsten Fall gar nicht mehr weiß, wer jetzt eigentlich wer ist. Das Durcheinander der Handlung, die episodenhaft erzählt wird, ist mitunter zwar originell, zu Stürmen der Begeisterung aber nicht ausreichend.

Höhepunkte gibt es allerdings trotzdem. Herrlich, wenn zum Workshop "Neue Männlichkeit" nur die Tante und vier weitere Frauen kommen.

"Und wie er geredet hat."
"Besser als der Pfarrer."

Auch Personen wie der "hübsche Pfarrer", der einst das Dorf verlassen musste, "weil ihm die Ehemänner auf den Fersen waren", lockern die kantige Atmosphäre auf, ebenso wie die nicht auf den Mund gefallene Puffmutter Silvina Domingo.

Spannend wird es zur Abwechslung auch einmal, denn wie sich die immer größer werdende Ablehnung der Dorfbevölkerung ins Gegenteil verkehrt und somit den Weg für eine Wahl des Hipsters zum Bürgermeister ebnet, ist ebenso originell wie lesenswert. Doch es soll noch "schlimmer" kommen ...

Klar, dass letztlich hier, in kleinstem Rahmen, aber hochaktuell, Gesellschaft und Politik parodiert werden. "Der Hipster von der traurigen Gestalt" bildet somit ein nettes kleines, intellektuelles Experiment, das leider überraschend schwer im Magen liegt. Aber so soll es vielleicht auch sein.

 

Thomas Lawall - Oktober 2023

 

 

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