Der Bienenmann
von Elias Mattay
480 Seiten Januar 2017 © Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH www.berlinverlag.de ISBN 978-3-8333-1084-3
Nicht mal vier Seiten hat das erste Kapitel. Doch das reicht Elias Mattay, um seinen phänomenalen Kriminalroman aus einer recht ungewöhnlichen Perspektive einzuleiten. Ohne jede Vorwarnung schlägt jene Figur, die dem Buch seinen Titel gibt, zu. Das Szenario schildert der Autor als drastische Zeitlupenstudie durch die Augen einer Person, die nicht unbedingt in der Lage ist, das Unvorstellbare, welches einer furchterregenden Traumsequenz gleicht, zu erfassen und zu verstehen.
Es geschehen in relativ rascher Reihenfolge weitere Morde, die in ihrer scheinbaren Zusammenhanglosigkeit Rätsel aufgeben. Weniger Rätsel scheint es in Sachen Identität des Täters zu geben. Leserinnen und Leser ahnen es schon auf den ersten Seiten. Doch dass der Bienenmann so schnell gefasst wird, dann eher nicht ...
Was Elias Mattay hier anbietet, geht weit über den Einheitsbrei der schier nicht mehr zu überblickenden Flut an Kriminalromanen hinaus. Allein das Kennenlernen der vorgestellten Personen rechtfertigt das Lesen dieses Romans. Es ist nicht nur das Schicksal des Kommissar Roman Baer, im Zusammenhang mit seiner schwerkranken Frau, das bewegt. Die ehemalige Schulleiterin hat einen Schlaganfall erlitten und hat danach erhebliche Probleme, sich wieder zurechtzufinden.
Rührende Szenen spielen sich im privaten Rahmen ab, während Baer Befürchtungen hegt, an den aktuellen Fällen, die sich komplizierter gestalten als zunächst vermutet, zu scheitern. Erschwerend kommen harte Proben für Gewissen und Moral hinzu, da sich mit Kollegin Liv Grünberg Eventualitäten auftun, die über ein kollegiales Verhältnis hinauszugehen drohen. Auch ihr widmet der Autor eine Charakterstudie, und er leistet sich diesen Luxus im Prinzip bei allen handelnden Personen sowie Opfern in einer sehr eindringlichen Weise. Spannender und glaubwürdiger können Charakterisierungen nicht sein.
Aber auch für Landschaften und allgemeine Stimmungen besitzt Elias Mattay die Gabe, diese mit Tiefgang und im Breitbandformat zu schildern. Dunst und starker Regen an einer Uferstraße lassen einen düsteren Eindruck entstehen. "Ohne die Bojen hätte man meinen können, die Welt habe ihre Farbe verloren...". Auch Tatorte beschreibt der Autor in schauriger Präzision. Baer besitzt nicht die Abgebrühtheit lächerlich-unglaubwürdiger TV-Figuren, sondern er fürchtet sich vor dem Moment, durch den von Kriminaltechnikern ausgelegten Parcours der Schildchen mit den Tatortleitzahlen, jenem "Höllenkreis", den eigentlichen Tatort zu erreichen.
Bildhaft auch die Sichtweise aus Tätersicht. Ein Verdächtiger wird zu einem Verhör gebracht, handschellengesichert und von Sicherheitspersonal und Anwalt begleitet. Er fühlt sich wie in einer "Prozession", dem, mit ihm als "Schlachtopfer", der "Götzendienst für die blinde Justitia" folgt. Man erreicht das Verhörzimmer, und wenn das Mikrofon eingeschaltet ist und das "Publikum" hinter der Einwegscheibe bereit ist, kann die Vorstellung im "Menschenzoo" beginnen.
Mit falschen Fährten, ungewöhnlichen Ermittlungsmethoden, unerwarteten Koalitionen zwischen Kollegen, massiven Zuständigkeitsproblemen und kollegialem Kampf auf der Hühnerleiter nimmt es der Autor ebenso genau wie mit deren Verstrickungen und Wirren im jeweiligen privaten Umfeld.
Die allenthalben entstehenden Bilderfluten trösten etwas über den Umstand hinweg, dass sich die Auflösung der zahlreichen Rätsel des Falles etwas kantig und allzu konstruiert darstellt. Die angedeutete falsche Fährte hätte dem Buch insofern eine Einzigartigkeit verleihen können, indem sich am Ende jene Fährte eben doch als richtig erwiesen hätte! Genau dies zu beweisen wäre ungeheuer spannend gewesen.
Das Spannungsniveau der ersten 150 Seiten flacht also leider etwas ab, was jedoch eine Kritik auf sehr hohem Niveau darstellt. Deshalb ist und bleibt "Der Bienenmann" ein vielschichtiger, komplexer Kriminalroman, der in der genannten Flut von Neuerscheinungen einen Vergleich mühelos gewinnt.
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