Der Augenblick
von Achim Koch
254 Seiten © Achim Koch 2019 © Schruf & Stipetic GbR, Berlin 2019 www.schruf-stipetic.de ISBN 978-3-944359-48-9
Die Fotos liegen auf der alten Hobelbank. Fee bearbeitet sie nach. So, wie sie das immer tut. Der festgehaltene Augenblick reicht ihr nicht. Auch nicht die Farben. Alles muss irgendwie reduziert werden. Größer kann der Kontrast zu diesem seltsamen Arbeitsplatz, mit den sich kaum noch zu bewegenden Spannzangen, nicht sein. Ihre sehr spezielle Art der Nachbearbeitung muss man sich völlig anders als gewohnt vorstellen.
Ebenso dieses Buch, für das die üblichen Muster des Schreibens keine Bedeutung haben. Nahezu in jedem einzelnen Satz passiert etwas besonderes, auch wenn es nur das vermeintlich Augenblickliche und Unmittelbare ist. Fast geht es Leserinnen und Lesern so wie den Uhren, die plötzlich ihren Dienst versagen, sowie einer ganz bestimmten Sorte Autos, die plötzlich einfach stehen bleiben. So als ob mit der Zeit und dem Augenblick etwas nicht stimmt.
Achim Koch stellt uns aber nicht nur faszinierende Momente vor, sondern ebensolche Charaktere. Fees Bruder Fabian sieht, denkt und handelt ebenfalls in anderen Kategorien. Wenn ihm beim Anschauen der Fotos seiner Schwester die Tränen kommen, dann spürt er "Schmerz und Verhängnis" nicht etwa wegen der Motive, sondern er sieht sie "in den Farben".
Als Kind wollte er nicht mit den anderen spielen, war anwesend, aber nahm nie teil. Eigentümlicherweise ist er Spieleentwickler geworden. Computerspiele sind ihm Beruf und Berufung. Wenn er auf seiner Tastatur zu "trommeln" beginnt, ist er der Welt entrückt. Dennoch ist er sehr verlässlich. Fee, die in der ehemaligen Wohnung der Eltern lebt, besucht er täglich. "Punkt zehn bis Punkt siebzehn."
Gegenwart vermischt sich mit Vergangenem. Fee war beruflich, im Auftrag einer Menschenrechtsorganisation, in Myanmar unterwegs. Dort sollte sie Fotos von der Unterdrückung der Rohingya, einer muslimischen Minderheit, welche im ehemaligen Birma nicht als eigenständige Bevölkerungsgruppe anerkannt sind, im Rakhaing-Staat machen.
Das Foto der "Zeugin 16" und das damit zusammenhängende Schicksal dreier schwer misshandelter und getöteter muslimischer Frauen beschäftigt sie unentwegt. Vielleicht war es in diesem Fall ganz besonders schwierig, den richtigen Moment zu finden, etwas Authentisches, als Gegenteil zur plakativen Sensation oder Pose: "Wie kann man einen authentischen Ausdruck eines bislang unbekannten Menschen erfassen?"
Die Motive ihrer Fotos sieht sie stets aus einer kritischen Distanz heraus. Hinterfragen ist für sie Normalität. Meinungen ihrer Agentin Selma, ihres Bruders Fabian oder Onkel Viktors, die sich diametral unterscheiden, sind für sie von existenzieller Bedeutung. Ihre eigenen festgehaltenen Momente sieht und beurteilt "Fee" auch in Zusammenhang mit weltbekannten Kollegen wie Don McCullin, Dorothea Lange, Eddie Adams, Malcolm Brownes, Rodriguez Parves, Paul Hansen oder Kevin Carter.
Was ist das Wesen der Bilder? Woher nehmen sie ihre Wirkung? Sterben und Tod in einem Moment festzuhalten kann nicht nur unabsehbare Folgen beim Betrachter, sondern bekanntlich auch bei der Person hinter der Kamera auslösen. Wie kommt es zu der Motivation, das Grauenhafte überhaupt abbilden zu wollen? Sensationslust oder etwas wie Romantisierung? Gibt es gar eine "Schönheit des Todes"? Wie kann man die Würde des Menschen bewahren oder "Selbstinszenierung" vermeiden?
"Der Augenblick", der die Grenzen von Fiktion und Realität wie in einem impressionistischen Gemälde verwischt, und in einem völlig unerwarteten Finale gipfelt, gibt keine Antworten. Wenn es jedoch auf Fragen keine Antworten gibt, ist vielleicht die Fragestellung falsch. Genau in den Untiefen jener Ambivalenz bewegt sich dieses Buch. "Onkel Viktor", der sich gerade mit dem Thema "Verschwinden" beschäftigt, bringt das Dilemma der Fotografie, die ebensolches nicht zulassen will, auf den Punkt:
"Sie versucht, den winzigen Moment, in dem sich die Zeit in die Vergangenheit wegschleicht, festzuhalten."
Psychologie der Sichtweisen in kritischer Distanz zum Fotojournalismus und eine Analyse des Augenblicks in Romanform. Prädikat "besonders wertvoll".
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