Das Walmesser
von C.R. Neilson
512 Seiten © 2014 by C.R.Neilson © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München www.heyne.de ISBN 978-3-453-41967-4
John Callum kommt auf den Färöer-Inseln an. "Mitten im Nirgendwo" gelandet, sucht er nach Orientierung. Diese gestaltet sich schwieriger als zunächst vermutet, denn nachdem er aus dem Flughafengebäude tritt, kann er wenig entdecken, was ihm Fixpunkte für ein Zurechtkommen zumindest andeuten würde.
Es gibt nichts zu sehen, was weniger an Nebel und Nieselregen liegt, sondern eher daran, dass es tatsächlich nichts Wesentliches zu entdecken gibt. Außer dem Bus vielleicht. Dieser wird ihn nach Tórshavn bringen, seinem Ziel. Bis dahin wird er allerdings noch genug Zeit haben, sich in dieser "sommerlichen Düsternis" etwas umzusehen.
C.R. Neilsons Zeilen merkt man bereits auf den ersten Seiten an, dass er nicht gewillt war, einen Kriminalroman von der Stange abzuliefern. Deshalb darf man es sich als Leserin und Leser ruhig etwas gemütlich machen, um seinen wahrhaft ungemütlichen Schilderungen der abgelegenen Inselwelt ausführlich folgen zu können. Man taucht in eine ferne Realität regelrecht ab und weiß nicht so recht, ob man staunen oder weglaufen soll.
Doch die Faszination für seine Landschaftsbeschreibungen überwiegt, zumal er das Kunststück fertigbringt, das vermeintliche Nichts in Worte zu fassen und dies in einer Intensität, die fühl- und greifbar erscheint. Er öffnet den Vorhang einer großen Kinoleinwand und lässt uns ein Land erleben, in dem es 300 Tage im Jahr regnet, in dem man aber auch ohne Regen nass werden kann und wo es nachts nur eine Stunde dunkel ist. "Höchstens."
John Callum, seine Hauptfigur, gestaltet er zunächst in Rätseln. Die eingestreuten Traumpassagen stiften zusätzliche Verwirrung, schockieren und faszinieren aber zugleich. Was auf dem Klappentext verraten wird, passiert auf den ersten Seiten, dann folgt eine fast 200seitige Rückblende, beginnend mit der Ankunft Callums in der selbstgewählten Einsamkeit, die ihm sowohl Schutz als auch die Möglichkeit eines neuen Anfangs bieten soll.
Doch so abgeschieden scheint der Ort nicht zu sein, denn völlig unerwartet beginnt seine Vergangenheit, ihn einzuholen. Fürchterliche Albträume unterstreichen zudem die sich verdichtenden Vermutungen, dass John Callum ein schreckliches Geheimnis mit sich herumträgt. Dabei befindet er sich in einer faszinierenden Zwickmühle. Als Hauptperson übernimmt er zusätzlich die Rolle des Hauptverdächtigen, gleichwohl ohne selbst zu wissen, ob er nun Täter ist oder nicht!
Die schon zitierte Rückblende ist umfangreich, doch keineswegs zu lang. Ganz im Gegenteil , denn die Virtuosität, mit welcher C.R. Neilson Land und Leute beschreibt, lässt einen fast vergessen, dass er es mit dem Haupterzählstrang ungewöhnlich spannend macht. Diese Wartezeit lässt man aber sehr gerne über sich ergehen, ja genießt den literarischen Freizeitführer der Färöer Inseln regelrecht.
Allein die Schilderungen des gewöhnungsbedürftigen Wetters auf der Inselgruppe sowie die Lichtverhältnisse der Tageszeiten sind ein außergewöhnliches Erlebnis. Der Autor möchte dem Schauplatz seiner Handlung ebenso viel Gewicht beimessen wie der Handlung selbst. Die in der einschlägigen Literatur nicht selten als lebloses Beiwerk benutzten "Kulissen" erhalten somit Bedeutung und Gewicht. Jeder banale Grashalm wird zu einer nachhaltigen Erfahrung. So wie das gesamte Buch übrigens auch!
|