Literatur

Das Umgehen der Orte


von Fabian Hischmann


210 Seiten
© 2016 Berlin Verlag
www.berlinverlag.de
ISBN 978-3-8270-1292-0



Ihr Vater hatte jene Erfrischungsbonbons ebenso gerne gelutscht wie zerbissen. Lisa hat die leere Tüte aufgehoben. Jetzt hängt sie über ihrem Bett. Lisa ist 17 Jahre alt und hat seinen frühen Tod weder verstanden noch verkraftet.

Den Weg zum Erwachsenwerden erlebt sie völlig anders als ihre neue Freundin Anna, die erst kürzlich in die Nachbarschaft zugezogen ist. Anna ist unkonventionell und unangepasst. Ihr Vater ist Pilot und ihre Mutter Olympia-Siegerin im Dressur-Reiten. Die erfolgreichen Eltern haben wenig Zeit, Anna um so mehr, denn ohne Aufsicht geht so einiges.

Lisa hingegen ist eher verschlossen und verkriecht sich hinter einem großen Panzer. Dieser wirkt sich auch auf ihr Körpergewicht aus, was auf ihre neue Freundin wiederum keinen besonderen Eindruck zu machen scheint. Auf Lisas entsprechende Frage meint sie, dass "fett" das falsche Wort sei und formuliert statt dessen: "Du bist halt mehr als andere."

Vielleicht ist dieser Satz so eine Art Schlüssel für dieses Buch. Im übertragenen Sinn und in der Umkehrung mag er für die Fähigkeit Fabian Hischmanns stehen, mit weniger Worten sehr viel mehr, als so manch ein Kollege, auszudrücken imstande ist. Dieses Weniger an Worten und das Mehr an Ausdruck zieht sich durch das ganze Werk.

Mal trifft es Leserinnen und Leser, wie jenes Stäbchen aus Annas China-Box-Tüte, mitten ins Herz oder verzaubert flüchtige Momente, bevor sie für immer vergehen, unter ein kinoleinwandgroßes Vergrößerungsglas. Leiden und Glück liegen sehr nahe beieinander und gehen, unter der Anleitung des Autors, fast Hand in Hand.

Mitunter verstrickt er sich aber in Banalitäten. Die überdehnten Befindlichkeiten von Dylan, Magnus, Samuel, Tim und Katja sind auf der einen Seite rührend, auf der anderen überschreiten sie aber schnell die Grenzen zur Langeweile. Nicht jedes Fragment eines Sinneseindrucks mag den Leser interessieren.

Der lustige Personenreigen setzt sich mit dem Beziehungsgeflecht zwischen Hannes, Kolja und Thomas fort. Man zieht fort, trifft sich mit dem besten Freund wieder, reflektiert die gemeinsame Kindheit ... und die diffuse Bilderflut geht weiter.

So als ob man mit einem Segelflugzeug über ein weites Land mit gelegentlich auftauchenden Leuten fliegt. Hier und da blitzt ein Schicksal auf, von Sonnenstrahlen geblendet ist aber nicht wirklich viel zu erkennen. Ein roter Faden schon gar nicht. Von Nachteil ist es nicht wirklich. Es ist ein unverbindlicher Blick auf Menschen, Episoden und das Leben, im Einzelnen wie im Ganzen. Frei und ohne an einen zwanghaften Zusammenhang gebunden zu sein.

"Das Umgehen der Orte" findet als Betrachtung getroffener und unterlassener Entscheidungen statt, deren Auswirkungen unscharfe Blitzlichtfotos aus der Menge der Unüberschaubaren hinterlassen. Zufällige Treffer. Lebenslichter. Und den Blick in eine mögliche Zukunft.

Weglesen oder Runterlesen funktionieren mit diesem Buch nicht. Überlesen vielleicht manchmal, denn Ausflüge in die Vulgär- und Jugendsprache wirken mitunter aufgesetzt. Doch es überwiegt eine Sprache, die nach Streifschüssen am Wesentlichen immer wieder zum Verweilen einlädt. Vor allem, weil zwischen den Zeilen so viel Raum ist. Eine Seite mit nur zwei Worten ist manchmal schon genug.

 

Thomas Lawall - Februar 2017

 

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