Literatur

Darm mit Charme
Alles über ein unterschätztes Organ


von Giulia Enders


288 Seiten
33. Auflage, 2015
© 2014 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
www.ullstein.de
ISBN 978-3-550-08041-8



Torten interessieren mich wenig. Na ja, wenn es nicht gerade eine Schwarzwälder Kirschtorte ist, denn diesem Hochgenuss kann ich nicht widerstehen. Es ist jedoch ein für allemal vorbei mit dem Genuss, jedenfalls so, wie er vor der Lektüre von "Darm mit Charme" einmal war. Nun ist er anders ...
 
Es gibt viele bemerkenswert spannende Bereiche in diesem nicht gerade sehr gewöhnlichen Werk. Richtig interessant wird es zum Beispiel, wenn die Autorin in Regionen vorstößt, in welchen das Unbewusste ganz in die Nähe des Bewussten rückt.

Solch einen Grenzbereich erreicht ein Stück Torte, welches wir im Mund noch sehr genau spüren und schmecken. Doch bereits kurz nach dem Schluckvorgang ist das Wunderwerk aus bewusst wahrgenommenem Reiz verschwunden. Die Torte ist weg "- paff -" und verkrümelt sich in Regionen, die man in der Medizin "glatte Muskulatur" nennt.

Hier kann nichts mehr bewusst kontrolliert werden, doch Giulia Enders vermag jenen Übergang nicht nur zu skizzieren, sondern mit einem munteren Trommelwirbel zu versehen, um damit zu unterstreichen, dass hier das eigentlich Spannende erst beginnt. Deshalb bietet sie sich im zweiten Kapitel als eine Art Reisebegleiterin an, indem sie Leserinnen und Leser einlädt, das Stück Torte "vor und hinter dem Paff" zu verfolgen.

Giulia Enders vermittelt Wissen um einen Bereich, der für gewöhnlich bisher sträflich vernachlässigt wurde, und beeinflusst damit das Bewusstsein um die körpereigenen Funktionen erheblich. Auf ihre unvergleichlich unverkrampfte Art macht sie uns neugierig und bildet uns gleichzeitig, fast so nebenbei, weiter. Wer ahnt schon, dass unsere Darmmikrobiota 100 Billionen Bakterien beherbergt? Zwei Kilogramm sind das und wenn wir unsere Darmbakterien einzeln begrüßen wollten, "kämen wir mit 3 Millionen Jahren ganz gut hin".

Sprachlich hat sich die quirlige Wissenschaftlerin für eine allgemeinverständliche Form entschieden, welche sicherlich einen nicht unwesentlichen Einfluss auf den Erfolg des Buches begründet. Auch ihre vorbehaltlose Begeisterung für das Tabu-Thema Darm, welches jetzt keines mehr ist, macht einen Teil des Erfolges aus. Die Wahl ihrer originellen Metaphern erleichtert den Zugang zu wissenschaftlichen Themenbereichen ungemein.

Fett kann nicht wie andere Nährstoffe aus dem Darm ins Blut aufgenommen werden, weshalb die Aufnahme über das Lymphsystem erfolgen muss. "Lymphgefäße sind für Blutgefäße so etwas wie Robin für Batman."
Richtig heftig wird es, wenn Immunzellen ihre "Uzis" auspacken oder wenn die Autorin das Thema Erbrechen behandelt. Jenes läuft nicht nur nach einer raffinierten Choreografie ab, sondern ist schlicht und einfach eine "Meisterleistung".

Klare Ziele formuliert sie ebenso direkt, beispielsweise in Sachen "Abführmittel". In diesem Fall sind es "wahre Prachthaufen". Hier bietet sie eine "Trickkiste" für alle "hoffnungslos verstopft Reisenden, Langsam-Transportierer, Campingtoiletten-Verweigerer oder Hämorrhoiden-Hindernis-Überwinder" an.
Rezeptoren in der Nase haben ein mitunter langweiliges Leben. Was passiert, wenn endlich mal wieder ein "Maiglöckchen-Geruchsmolekül" vorbeikommt, ist interessant zu erfahren.

"Ulkig" und "spannend" sind ihre Lieblingsadjektive und lockern die Sachebene zusätzlich auf. Gar kein Auge mehr trocken bleibt dann, wenn uns eine Seescheide die Notwendigkeit eines Gehirns erklärt, oder die Autorin die Aufklärung eines scheinbaren Widerspruches einleitet, indem sie fragt, weshalb das Immunsystem bei vielen Menschen einzelne Pollen bekriegt, andererseits aber zulässt, dass im gleichen Körper ein "bakterielles Woodstock" zelebriert wird!

Giulia Enders gibt gerne zu, dass sich die Wissenschaft noch in einer Art Morgendämmerung befindet, was in Sachen Darm nicht nur spannend ist, sondern spannend bleiben wird. Viele Zusammenhänge sind längst nicht geklärt und so werden wir von der unkonventionellen Autorin und Wissenschaftlerin noch einiges hören - übrigens gerne wieder so pointiert illustriert durch ihre Schwester Jill.

 

Thomas Lawall - März 2015

 

 

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