Literatur

Cinema Speculation

von Quentin Tarantino


394 Seiten
© 2022 by Visiona Romantica, Inc.
© 2022, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
www.kiwi-verlag.de
ISBN 978-3-462-00429-8



Was eigentlich in ein Fazit gehört, gleich zu Beginn. Wer das Kino nicht mag, ist hier fehl am Platze. Denn um nichts anderes geht es hier. Klar, dass die versammelte Fangemeinde Tarantinos auf so etwas gewartet hat, denn bekanntlich hat der Meister viel zu erzählen. Dass es aber solche Ausmaße, wie in "Cinema Speculation" ausführlichst beschrieben, annimmt, dachten viele wohl im Traum nicht.

Natürlich gibt es einige Voraussetzungen, die Leserinnen und Leser mitbringen müssen, denn wer Filme wie BULLITT, THE GETAWAY, DIRTY HARRY oder DELIVERANCE nicht kennt, wird es schwer haben, sich in Tarantinos Filmlexikon zurechtzufinden.

Aber auch Experten der Gemeinde wissen längst nicht alles, und wenn sie dies bisher dachten, werden sie eines Besseren belehrt. Was der Autor hier an Hintergrundinformationen abliefert, dürfte seinesgleichen suchen. Was man schon immer über Filme wissen wollte, bisher aber nie zu fragen wagte, wird hier in aller Ausführlichkeit besprochen. Es ist schon unglaublich, was Quentin Tarantino hier an Geschichten, Zusammenhängen und Querverweisen anzubieten hat.

Diese schier explodierende Informationsflut ist aber keineswegs be- oder überlastend, sondern extrem unterhaltsam. Selbst wenn man einen Großteil der von ihm zitierten Filmtitel nicht kennen mag, ja gar nicht kennen kann, zumal sich sein Fokus bekanntermaßen auf die Produktionen der 70er Jahre richtet.

Es sind auch und vor allem vielleicht die vielen Geschichten, die sich im weiteren Umfeld der Filme und ihrer Entstehung um diese ranken, und die so manchen Filmfan in ungläubiges Staunen versetzen können. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass der junge Richard Gere, der ursprünglich für die Rolle des Chico Tyrell in Martin Davidsons Low-Budget-Independentfilm "The Lords of Flatbush" vorgesehen war, von Sylvester Stallone, der die Figur des Stanley Rosiello spielte, wegen gegenseitiger persönlicher Abneigungen "vermöbelt" und dann auch noch gefeuert wurde?

Wenn Quentin so richtig in Fahrt kommt, ähneln seine ausschweifenden Ausführungen nicht selten den sachbezogenen Aufzählungen eines Filmlexikons, wo er uns Unwissenden doch eigentlich einen seiner vielen Lieblingsfilme vorstellen wollte. Erstaunlicherweise ist einer davon "Rocky", "quasi sein liebster Film aller Zeiten", und in diesem Zusammenhang lernen wir einen völlig anderen Sylvester Stallone kennen.

"Rolling Thunder" gehört ebenfalls in die lange Liste jener Filme, die ihn "völlig umgehauen" haben. John Flynns Vietnam- und Rachethriller sah er bereits mit 14 Jahren (in Begleitung seiner Mutter) am Premiereabend in Los Angeles und später, als er Führerschein und Auto hatte, in unzähligen Grindhouse-, Programm- und Nachaufführungskinos.

"Bevor es Heimvideo gab, machten Filmliebhaber solche Sachen."

Und noch ganz andere Sachen. Einfach mal weit über die gegebene Thematik hinausgehen. Raus aus dem Filmalltag und hinein in die "Speculation". Hier wäre dann zum Beispiel die (film)weltbewegende Frage zu stellen, wie sich "Taxi Driver" gestaltet hätte, wenn nicht Martin Scorsese, sondern Brian De Palma die Regie übernommen hätte. Schließlich war letzterer der Erste, der Paul Schraders Drehbuch las...

Der Umfang des Buches mag auf den ersten Blick abschrecken, doch nach der Lektüre, die sich aufgrund des unerwartet hohen Unterhaltungswertes nicht lange hinzieht, entstehen reichlich ambivalente Gefühle, denn wie sollte sich das Ende eines solchen Werkes gestalten? 

Der vermeintlich drohenden Ernüchterung entkommt Tarantino mit einem Kunstgriff, der einen weiten Bogen von sehr privaten Kindheitserinnerungen zu einem seiner neueren Filme spannt. Jetzt läuft die Sache rund. So könnte auch ein Film enden.

Doch, oh Schreck, wo sind die "Credits"? Kein Inhaltsverzeichnis, kein Register, Quellenangaben usw. und Fotos sind schon gar nicht vorhanden!?

Wie auch immer, "Cinema Speculation" kann nicht das letzte Wort Tarantinos gewesen sein. Da kommt noch (viel) mehr, zumal Sicht und Reflexion auf die eigenen Filme, was schon fast an vornehme Bescheidenheit grenzt, nur in Spurenelementen vorhanden sind. Filmnerds sind dann weniger bescheiden und harren der Dinge bis zu einer Fortsetzung. Auf den zehnten (und letzten?) Film warten sie ja sowie schon (lange).

 

Thomas Lawall - März 2023

 

 

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