Literatur

Brennende Fragen

von Margaret Atwood


702 Seiten
© O.W. Toad, Ltd., 2022
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München 2023
www.berlinverlag.de
ISBN 978-3-8270-1473-3



Die kanadische Schriftstellerin braucht man nicht vorzustellen. Ebenfalls keinen Sinn würde es machen, dieses Buch in seiner Gesamtheit irgendwie zusammenfassend beschreiben zu wollen. Selbst der dritte Sammelband mit ihren "Essays und weiteren Gelegenheitsarbeiten", von Mitte 2004 bis Mitte 2021, beinhaltet einfach zu viel, aber nicht etwa im Sinne von Überdruss, sondern im Sinne von Vielfalt.

Deshalb ist es vielleicht sinnvoller, Bruchstücke einzelner Essays, Rezensionen und Vorträge zu zitieren, um einerseits potentielle Leserinnen und Leser neugierig zu machen, andererseits aber nicht zu viel zu verraten. Die Auswahl fällt aber selbst hier schwer, da jeder einzelne Beitrag eine Erwähnung verdient hätte.

Stellvertretend für alle anderen sollen hier einmal eine Handvoll unbequeme Fragen sein, die des Rezensenten männliche Stammesgenossen gerne ausblenden oder sich gar nicht erst stellen. Allen damit zusammenhängenden Fragen voraus, wie und warum Männer es schafften, "an eine derartige Macht über Frauen" zu gelangen. In "From Eve to Dawn" beschäftigt sich Margaret Atwood mit Marilyn Frenchs gleichnamiger, dreibändiger Geschichte der Frauen. Fast zweitausend Seiten stark, und (unter anderem) "als Warnung vor den erschreckenden Extremen menschlichen Verhaltens und männlicher Absonderlichkeiten", aus ihrer Sicht unverzichtbar.

Ja, und was ist mit der Jugend? Wollen sie unseren Rat oder lieber nicht? Und welchen Rat, so fragen und fragten sich Generationen von Eltern, sollte man ihnen, falls gewünscht, überhaupt geben? Die Antwort ist ebenso erstaunlich wie simpel.

Selbstverständlich ist "Literatur und die Umwelt" ebenfalls ein Thema. Schon der zweite Satz eines Vortrags beim PEN-Kongress in Tokio (2010) hat den Charakter einer Zündschnur:

"Nichts begehren repressive Staaten so sehr wie erzwungenes Schweigen. Die Unmöglichkeit zu sprechen begünstigt Unaussprechliches ..."

Brillant ist der Vortrag einer "Außerirdischen" ("Seid gegrüßt, Erdlinge!"), die von einem fernen Planet angereist ist, dessen Namen wir Menschen nicht auszusprechen in der Lage sind.

Höchst interessant ist (auch) eine Selbstbetrachtung und -bewertung. Einen Essay über Franz Kafkas Werk, den sie 1959, neunzehnjährig, geschrieben hatte ("Kafka - Drei Begegnungen"), nimmt sie 55 Jahre später (2014) genauestens unter die Lupe und bezeichnet sich eingangs als

"eine ziemlich ernste und pedantische Nachwuchsschriftstellerin, die ganz und gar auf ihre eigenen wichtigen künstlerischen Probleme konzentriert war."

Das soll jetzt genügen. Der Rezensent stolpert sowieso permanent über seine Notizen und Verweise auf entsprechende Kapitel, um dann immer wieder gewisse Passagen noch einmal zu lesen und zu vertiefen. Dennoch zieht er sich jetzt lieber vornehm zurück, denn die Zeit bleibt ja nicht stehen. In diesem Zusammenhang stellt sich ihm aber eine Frage, die ihm immer wieder begegnet, und zwar spätestens, wenn er das Literaturverzeichnis erreicht hat. Wie kann es sein, DAS alles gelesen zu haben? Da jene Frage (für ihn) nicht zu beantworten ist, verwandelt er sie in respektvolle Bewunderung.

Wie es scheint, beschäftigt sich Margaret Atwood nicht nur mit "Brennenden Fragen", sondern weiß auf alle eine Antwort (also mindestens eine). Was die großen Entscheider damit anfangen (oder überhaupt) können, bleibt leider fraglich. Dies ist aber dann wieder nicht die Aufgabe der schreibenden Zunft. Im Kapitel "Wie kann man die Welt verändern?" gibt die Autorin dennoch eine ganze Reihe Antworten, nachdem sie eingangs die Frage erst einmal gründlich in ihre Einzelteile zerlegt...

"Brennende Fragen" ist ein faszinierendes Lesebuch der Superlative, das der jeweiligen Thematik Glanz und Würde verleiht, sich zuweilen eine herzhafte Kritik erlaubt, die jedoch ebenso selbstverständlich wie herzerfrischend wirkt, und somit nie in Bereiche einer selbstgerechten Lamentation abstürzt.

"Vielleicht sollten wir uns langsam mal ganz fest wünschen, dass wir überleben. Wenn wir es wirklich wollen, können wir es mit unserer viel gelobten Intelligenz doch bestimmt zustande bringen."

Ein geistreicher Streifzug durch 17 Jahre Schreibarbeit, welcher Klugheit, Schlagfertigkeit, eine gehörige Portion Frechheit (da wo es dringend notwendig ist) und höchsten Anspruch vereint und das Kunststück fertigbringt, dennoch extrem unterhaltsam zu sein.

 

Thomas Lawall - Januar 2024

 

 

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