Blut und Wasser
von Jurica Pavičić
278 Seiten Deutsche Erstausgabe © Schruf & Stipetic GbR, Berlin 2020 © 2017 Jurica Pavičić www.schruf-stipetic.de ISBN 978-3-944359-49-6
Ende September 1989 sieht alles aus wie immer. Veränderte Vorzeichen gibt es nicht. Vesna und Jakob, achtzehn Jahre verheiratet, deren Kinder Silva und Mate, siebzehnjährige Zwillinge, sitzen zusammen: "Ein ganz gewöhnliches Abendessen wie viele zuvor."
Ein ganz normales Leben im kleinen Ort "Misto" an der kroatischen Adria. Jakob fristet seine ungeliebte berufliche Laufbahn als Buchhalter, während Vesna als Grundschullehrerin vergeblich nach ihrem verloren gegangenen Enthusiasmus sucht. Vierzehn Jahre Schuldienst ließen in ihr den Eindruck wachsen, "dass Kinder in ihrem Wesen nicht gut sind".
Doch man richtet sich in der Gewöhnlichkeit des Alltags ebenso ein, wie in der "ruhigen, aber auch langweiligen Ehe". Immerhin reicht es für wenige Momente einer trauten Zweisamkeit und das Großziehen der Kinder. Alles wäre weiterhin einem vorgezeichneten Weg gefolgt, wenn da nicht jenes Fischerfest gewesen wäre. Jener Abend, an dem Silva nicht mehr nach Hause kommen sollte. Die Suche beginnt. Und ein Alptraum.
Nüchtern und in fast sachlicher Genauigkeit schildert Jurica Pavičić das Leben "normaler" Leute, welches völlig aus dem Ruder läuft. Erstaunlich die Erkenntnis, wie sehr sich der vermeintlich einfache Lebensentwurf der Familie im Nachhinein ändert und selbst die kleinsten Nebensächlichkeiten an Gewicht und Wert gewinnen, wenn der gegebene Rahmen durch Verlust plötzlich wie ein aus der Bahn geworfener Planet durchs All taumelt.
Verzweiflung greift wie eine Seuche um sich, als die Polizei mit ihrem Latein am Ende ist, und Georg und Mate sich selbst und ebenso vergeblich um die Suche nach Silva bemühen. Diesen Ausnahmezustand weiß der Autor weiter zu dramatisieren, indem er ihn in größere Zusammenhänge stellt. Die bescheidene Gedankenwelt der Dorfgemeinschaft entwickelt in dieser Sache eine unglückselige Eigendynamik, die alle Einigkeit nachhaltig zerstört.
Den noch größeren Rahmen auf der fast schon überladenen Bühne bilden politische Umwälzungen, die an ebenso erfreuliche wie ungemütliche Kapitel der Geschichte erinnern. Ostdeutschland wird im Oktober 1989 um den Rücktritt Honeckers bereichert, während wenige Monate später in Jugoslawien der wirtschaftliche und politische Zerfall beginnt, der den Weg in die Jugoslawienkriege bereiten sollte.
Diesen skizziert der Autor aber nur am Rande, auch wenn die Auswirkungen im weiteren Verlauf der Handlung ständig präsent sind und mit der Handlung verwoben werden. Die Hauptpersonen interessiert dies jedoch wenig, allen voran Silvas Mutter. Ihr eigenes Leid könnte nicht größer sein, weshalb sie sich für den Kummer der anderen nicht interessiert. Zudem gibt es, wie in jedem Krieg, auch in diesem keine Sieger, "nur aufgeschobene Niederlagen".
Mate hält als letzter durch, und gibt auch nach vielen Jahren die Suche nach seiner Schwester zunächst nicht auf, auch als er schließlich verheiratet ist und selbst eine Tochter hat. Ergreifend, wie es Jurica Pavičić schafft, den Spagat zwischen der Normalität des Alltags und tiefster Verzweiflung darzustellen, wenn sich nach weiteren, sich europaweit ausdehnenden Suchaktionen, wieder ein Hinweis in Luft auflöst.
Alles was man tut oder auch nicht tut, hat Folgen. Das Miteinander und Gegeneinander sind oft nur eine Handbreit voneinander entfernt. In unmissverständlicher Klarheit führt der Autor Leserinnen und Leser durch gescheiterte Lebensentwürfe und zeichnet Psychogramme von Menschen in Ausnahmesituationen.
Ein Roman aus "Blut und Wasser", ein Puzzle aus Ursache, Wirkung und zwischenmenschlichen Gräben. Eine erfundene Geschichte, und doch die reale eines Landes. Wie eine Blaupause des Lebens. Der Gegenentwurf zur massenkompatiblen Kriminalliteratur.
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