Literatur

Blinde Vögel

von Ursula Poznanski


476 Seiten
© 2013 by Rowohlt Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-8052-5045-0



Eine Beamtin der Leitstelle platzt in die Besprechung und berichtet Beatrice Kaspary von einer Nachricht, die über den Notruf hereingekommen ist. Der Anrufer wäre nicht mehr in der Leitung, aber die Dienststelle hat eine Aufzeichnung des Anrufs weitergeleitet. In aller Regel bringen solche Anrufe wenig, doch die Ermittlerin nutzt die sich bietende Gelegenheit, der spannungsgeladenen Stimmung im Besprechungsraum zu entkommen.

Eine männliche Stimme bezieht sich auf den vermeintlichen Mord an Sarah Beckendahl und dem angeblichen Selbstmord des der Tat dringend verdächtigen Gerald Pallauf. Die entsprechenden Zeitungsberichte würden nicht stimmen. Es wäre kein Selbstmord gewesen, doch weitere Erklärungen könne er jetzt nicht bieten. Der Unbekannte schlägt deshalb einen Treffpunkt am Bahnhof vor, vereinbart Erkennungszeichen sowie Uhrzeit und legt dann auf.

Beatrice Kaspary fühlt sich nach dem Anruf trotz aller Vorbehalte in ihren Ahnungen bestätigt. Weshalb sollte sich Pallauf beispielsweise die Mühe gemacht haben, sein Opfer zu erdrosseln, um sich dann mit einer vollgeladenen Waffe zu erschießen - einer Glock 21 mit dreizehn Schuss Munition? Dann wäre da noch jener Papierfetzen, der, ohne ein am Tatort gefundenes Gegenstück, Rätsel aufgibt. Zudem befanden sich die beiden Personen nachweislich in keinem nachzuweisenden Verhältnis - bis auf die Tatsache, dass sie beide in einem Lyrik-Forum angemeldet waren ...

Das Internet hat sich längst Zutritt in die Literatur verschafft. Ob es nun ein Fluch oder ein Segen ist, überlasse ich gerne den sich zuständig fühlenden Experten. Für "Blinde Vögel" ist es aus meiner Sicht ein Segen. Dieser begründet sich in der intelligenten Verflechtung von Internetrecherche und konventionellen Fahndungsmethoden. Die verzeifelte Suche nach Zusammenhängen in Facebook, insbesondere in einer geschlossenen Gruppe, kann aufregender nicht sein. So ganz nebenbei unterstreicht Ursula Poznanski Stärken und Schwächen der sozialen Netzwerke eindrucksvoll. Zum Beispiel wie leicht es ist, "geschlossene Gruppen" zu infiltrieren ...

Beatrice Kaspary ermittelt dergestalt im Netz, erfindet eine zweite Identität und tastet sich mühsam Schritt für Schritt in ein ihr unbekanntes virtuelles Paralleluniversum. Ursula Poznanski entwickelt somit ein ungewöhnliches Szenario und einen ebensolchen Spannungsbogen. Das wird in dieser Form sicherlich Nachahmer finden, zumal sich in diesem zukunftsweisenden Konzept ungeahnte Perspektiven ergeben.

Die in anderen Rezensionen beschriebenen "Längen" finde ich in diesem Buch nicht. Ganz im Gegenteil, denn die ganz spezielle Struktur der Story erlaubt dies eigentlich nicht. Durch ebenso vage wie hauchdünne Zusammenhänge schälen sich langsam immer konkretere Bilder heraus. Für Langeweile bleibt hier kein Raum. Zudem muss Kaspary gegen heftige Widerstände aus den eigenen Reihen ankämpfen und sich mit dem geschiedenen Ehemann und den gemeinsamen Kindern arrangieren.

Zusätzliche Brisanz verleiht die Autorin ihrer Geschichte insofern, als sie es in zart verhaltenen Bildern zwischen Beatrice und Kollege Florian ordentlich funken lässt. Diese kunstfertig eingestreuten Sekundenbruchteile wirken wie das Salz in der Suppe. Weiteren Tiefgang schaffen bildgewaltige Vergleiche und Beschreibungen, ob es die panische Angst einer gewissen Person vor dem Schwimmen ist, riskanter Schlaf, der Bildern im Kopf "grauenvolles Leben einhauchen würde", oder der Zustand eines Menschen, der von einem Zug überrollt wurde.

Die Kombination von zwischenmenschlichen Baustellen und gnadenloser Realität stellt sich dem aufmerksamen Leser als sehr gelungen dar - man darf sehr oft zwischen den Zeilen lesen und sich eine eigene Sichtweise erlauben. Ursula Poznanski sorgt natürlich auch für sehnlichst erwartete Aufklärung und Begründung all der seltsamen Zusammenhänge ... doch hier erwarten den Leser Extreme und ein Absturz in die Hölle, den man sich so nicht vorzustellen gewagt hätte!

"Blinde Vögel" bildet somit eine Fusion aus Krimi-Unterhaltung mit Anspruch und dem Ansatz eines Versuchs von Vergangenheitsbewältigung - Menschen und ein Krieg, der fast schon vergessen ist.

 

Thomas Lawall - Juni 2013

 

 

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