Bitteres Blut
von Willi Voss
320 Seiten © Sutton Verlag, 2012 www.sutton-belletristik.de www.willivoss.de ISBN: 978-3-86680-958-1
Kriminalrat Timmermans nimmt langsam Fahrt auf. Auf seine unnachahmliche Art holt der Dienststellenleiter erst einmal in aller Ruhe aus, um den neuen Kollegen zunächst etwas zappeln zu lassen. Schließlich hat er sich als großes Vorbild nie etwas zuschulden kommen lassen. Erst nach 22 Jahren Dienst hat es eine Beschwerde gegeben. Bei Kollege Lorinser dagegen dauerte es gerade mal 14 Tage. Der Kriminalobermeister ist sich zunächst keinerlei Schuld bewusst und fragt sich, was er wohl dazu beigetragen haben könnte, das hohe Ansehen von Timmermans Dienststelle derart ernsthaft beschädigt zu haben.
Timmerman möchte wissen, ob sein Untergebener aus irgendeiner Überzeugung Polizist geworden sei. Dies kann Lorinser nicht nur umgehend beantworten, sondern weiß seine Aussage auch noch zu unterstreichen, denn niemand Geringeres als der gute alte Jean Gabin in seiner Paraderolle als Kommissar Maigret diente ihm einst als Anregung und Motivation für seinen beruflichen Werdegang. Was er nicht erwähnt, sind weitere Gründe, die in den dunkleren Passagen seiner Erinnerungen herumlungern ...
Schließlich kommt der Kriminalrat zur Sache und berichtet von einem Telefongespräch mit dem Landtagsabgeordneten Reets, der seinerseits ein Telefongespräch mit dem Bürgermeister von Lemförde führte. Eine gewisse Gertraude Simmerau hätte sich nach einer Befragung durch den Kriminalobermeister beschwert, der ihr in unangemessenem Ton zu nahe getreten sei ...
Der Kollege Steinbrecher hat es ebenfalls nicht leicht, auch wenn sich seine Probleme in anderen Dimensionen bewegen. Der Hauptkommissar ist geschieden, und es ranken sich einige sehr unangenehme Geschichten um ihn. Einige Wochen vor Dienstantritt des Kollegen Lorinser ist er von einem "wahren Drachen" geschieden worden. Die resolute Dame führte nicht nur ein strenges Regiment in der ehelichen Burg, sondern gab bei der Abschiedsvorstellung vor dem Scheidungsrichter eine Vorstellung und einen Abgang der besonderen Art. Vor den Augen aller Beteiligten orfeigte sie ihn nicht nur, sondern bezeichnete ihren frischgebackenen Ex-Ehemann als "onanierenden Rohrkrepierer", der noch nicht einmal in der Lage sei, sich seine Schuhe selbst zu binden, worauf dieser sich den größten aller Fehler leistete, gänzlich unmännlich in Tränen auszubrechen und ohne erkennbare Gegenwehr die Flucht zu ergreifen ...
Was das alles mit dem Fall zu tun hat? Wenig und doch irgendwie viel. "Bitteres Blut" lebt nicht von einer platt erzählten Geschichte, sondern auch und vor allem durch die beteiligten Personen. Willi Voss versteht es auf eine ganz besondere Weise, seinen Personen absoluten Vorrang im Rahmen der eigentlichen Handlung einzuräumen. Die hat es dennoch in sich, denn zunächst geht es um eine Leiche, die sich insofern einer Gegenständlichkeit entzieht, indem sie verschwunden ist. Bauer Hollenberg hat alle Mühe, Kriminalobermeister Lorinser zu überzeugen, dass an einem Denkmal in Lemförde eine männliche Leiche hing. Der Beweis wäre schließlich das zurückgebliebene Seil und ein schwarzer Turnschuh. Und der Tote wäre auch ganz und gar kein Unbekannter ...
Bitteres Blut ist ein Krimi-Konzentrat, vollgepackt mit einer Armada von Verdächtigen, einem großen Aufgebot an Charakterdarstellern, einem von Missgunst und Neid durchsetzten Ermittlerteam, Kollegen, die in ihren privaten Befindlichkeiten schier zu versinken drohen, einem "Mount Everest an Ermittlungsarbeit" und einem Kriminalobermeister, der sich sowohl mit der Psychologie seiner engsten Mitarbeiter als auch und insbesondere mit der seiner Vorgesetzten klug taktierend und abwägend auseinandersetzt. Überhaupt erfährt Lorinser - begeistereter VFL-Bochum-Fan, Isabella-Fahrer ("Das ist ein Borgward und keine Isetta!") und ein Könner in Sachen "instinktiver Mathematik" - eine außerordentlich sensible Charakterzeichnung, und ebenfalls viel Zeit dürfen wir damit verbringen, wie sich seine sachbezogenen sowie allgemeine Beobachtungen gestalten und wie aus dem Nichts herausschälen. Auch ans Eingemachte geht es und zwar spätestens, wenn Erinnerungen an den Vater wach werden ... denn hier nähern sich existenzielle Fragen an einen Fall ins Bodenlose, gegen den der Sohn aber weitgehend immun zu sein scheint.
Nicht weniger unproblematisch sind oscarreif besetzte Nebenrollen, wie die des Bauern Hollenberg, Lorinsers chaotischer Schwester Katta oder seiner gar nicht mal so unprominenten Freundin Paula. Willi Voss gestaltet seine Protagonisten derart plastisch und lebensnah, dass der ans Buch genagelte Leser glatt ohne die krimiüblichen Zutaten auskommen könnte. Was ist schon ein simpler Mord gegen die ganzen Mauscheleien im Hintergrund, bürokratischen Stolperfallen, die großen und kleinen Schweinereien, die im Verborgenen und im Hintergrund von bürgerlichem Fassadenleben wahre Stilblüten treiben, tief in der Vergangenheit verwurzelte Familienkriege, jung gebliebener Hass nach politisch bedingter Flucht im dritten Reich, Lug und Trug hinter vorgehaltener Hand und dem ganzen sumpfigen Morast aus Ehebruch, verlogener Moral, Macht- und Geldgier!?
Mein erster Favorit im vielversprechenden Frühjahrsprogramm des Sutton Verlags. Ein Krimi mit Hirn, Tiefgang und unkonventionellem Ende.
|