Bevor ich es vergesse
von Anne Pauly
© 2019 Éditions Verdier © der deutschen Ausgabe Luchterhand Literaturverlag, München www.luchterhand-literaturverlag.de ISBN 978-3-630-87668-9
Annes Vater wusste, dass er schwer krank war, und dass der Tag kommen würde, "an dem man sich Lebewohl sagen müsste". Jene "Galgenfrist" pflegte er beim Abschied jeweils mit einem "bis später" zu übertünchen.
So, wie er mit der Liebe zum Zen-Buddhismus seine Trunksucht zu verschleiern versuchte. Eine meditative Ruhe war deswegen angesagt, insbesondere beim sonntäglichen Spaziergang mit der Familie, schließlich sollte die ganzheitliche Naturerfahrung nicht durch sinnloses Gerede gestört werden. Klar war aber, dass dies eher seinen "Kater" gestört hätte.
Im Beruf als Programmierer überlastet, verstrickt in Erinnerungen an seine "elende Kindheit" und das Scheitern seines Vaters, sowie mangelhafter Selbstsicherheit mögen alles Grundlagen für die Entstehung eines ungesunden Fundaments gewesen zu sein. Doch:
"Im Grunde weiß man nie wirklich, ob jemand trinkt, um Schiffbruch zu erleiden, oder Schiffbruch erleidet, weil er trinkt."
Nun liegt er da, den Unterkiefer mit einer Kinnbinde fixiert, nachdem ihm eine Krankenschwester die Augen geschlossen hat. Anna hält seine Hand, die langsam kälter wird.
"Ciao, ich liebe dich, bis später, gib kurz Bescheid, wenn du angekommen bist."
Und schon stürzt die Gegenwart ins Bodenlose und Erinnerungen übernehmen das Ruder.
Doch zunächst gilt es, die letzten Angelegenheiten zu regeln. Schon bei der Sargauswahl sind sich Bruder und Schwester nicht einig. Während Jean-François das "Kistengeschäft" in Grund und Boden kritisiert und im Beisein des Bestatters verflucht, sieht Anne angesichts der unverrückbaren Tatsachen momentan keinen Sinn mehr darin. Ihr Bruder verachtet den Vater wie eh und je, und daran ändert selbst dessen Tod nichts. Diese Sichtweise kommt dem Rezensenten sehr bekannt vor, und passt eher zu ihm, als Annas sehr ambivalente Herangehensweise. Zweifellos hat sie unter den "bürgerkriegsähnlichen Zuständen" zu Hause gelitten, doch etwas in ihr zwang sie, in der Vergangenheit wie in der Gegenwart, stets zu einer ausgleichenden Herangehensweise.
Vielleicht kann sie gar nicht anders, was in ihren Veranlagungen einfach vorgeschrieben ist, wobei Einfluss, Verhalten und Rolle ihrer Mutter zusätzlich gewisse Richtungen vorgeben. Zudem charakterisiert sie sich selbst als
"braves Weichspüler-Konzentrat-Aprilfrische-Mädchen",
welches nicht selten auf einen "Überlebens-Unterwerfungs-Modus" geschaltet ist. Damit unterscheiden sich ihr Lebensentwurf und der ihres Bruders Jean-François grundlegend, jener, der aus der Sicht seiner Schwester als "verkappter Attila" und "als Wanderführer verkleideter Despot" unterwegs ist.
Die konfliktreiche Familiengeschichte beinhaltet eine ganze Vielzahl kleiner und großer menschlicher Katastrophen. Jede Menge Zündstoff, der eigentlich eine kapitale Abrechnung mit dem Hauptverursacher rechtfertigen würde.
Autorin und Hauptperson Anne geht es aber anders an. Eindringliche Reflexionen zeichnen für sie einen anderen Zusammenhang. Sie vergisst nicht die guten Seiten ihres Vaters, auch wenn sie sich in Sachen "Weichspüler" vielleicht zu einer Art Überdosierung verleiten lässt.
Egal, denn es entsteht ein Abschied nehmen ganz im Sinne von Würde, Versöhnung und Vergebung. Verstehen muss oder kann man das nicht unbedingt, aber es ist dennoch nachvollziehbar und, nebenbei, ganz wunderbar zu lesen, insbesondere den Schlussteil und das bezaubernde Ende selbst. Anne Pauly verzichtet dabei völlig auf eine verkitschte Glorifizierung des Verstorbenen, weshalb sie hier auch das letzte Wort haben soll:
"Einmal habe ich sogar seine Nummer gewählt, nur mal so ...
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