Bei den minderen Brüdern
von Andreas Heidtmann
320 Seiten Frankfurter Verlagsanstalt GmbH Frankfurt am Main 2024 Lektorat: © Frankfurter Verlagsanstalt www.fva.de ISBN 978-3-627-00322-7
Meine erste Begegnung mit dem am Niederrhein geborenen Autor Andreas Heidtmann sowie der Frankfurter Verlagsanstalt gestaltete sich ausgesprochen angenehm.
Doch ganz von vorne. In vielen Buchbesprechungen scheint ja das Cover eine besondere Bedeutung zu haben und bemüßigt nicht wenige Kolleginnen und Kollegen zu besonderen Erwähnungen. Das mache ich jetzt ausnahmsweise auch mal. Die zurückhaltende und etwas altmodisch anmutende, jedoch dem Inhalt angepasste Gestaltung entwickelt, vielleicht gerade deswegen, eine merkwürdige Anziehungskraft, die gleichzeitig bestimmte Erwartungen weckt.
Damit liegt man völlig richtig. Neben dem sich umgehend einstellenden literarischen Anspruch stellt sich eine weitere, sehr dominante Eigenschaft vor. Es ist ein Augenzwinkern, welches sich nicht nur in der Überschrift des ersten Kapitels zu entfalten beginnt, sondern bereits in der Auswahl der beiden vorangestellten Zitate von Jimi Hendrix und Franz von Assisi angedeutet wird.
Dabei ist die Thematik ja eigentlich alles andere als heiter. Ben Schneiders Mutter ist sehr krank, weshalb sie zu einem längeren Aufenthalt in einer Kurklinik untergebracht ist. Die Abiturprüfungen schon deutlich am Horizont in Sichtweite, verschlägt es Ben Schneider in das Internat eines Franziskanerklosters, da die häusliche Versorgung wohl nicht mehr gewährleistet ist.
Im Prinzip gar nicht mal schlecht, denn Bens Lebenswirklichkeit, Befindlichkeiten und Zielsetzungen sind mehr oder weniger diffus. Auf weitere Komplikationen kommt es deshalb gar nicht mehr an, zumal er (und alle anderen) innerhalb der klösterlichen Mauern immerhin vor den "allabendlichen Katastrophen der Tagesschau" geschützt werden.
Eine übertrieben strenge Reglementierung gibt es nicht. Kleine Freiheiten sind, unter gewissen Voraussetzungen, möglich. Der Minutenkampf am Telefon beispielsweise, der sich durchaus nicht unoriginell gestalten kann. So wie die Telefongespräche selbst, die unter enormem Zeitdruck stehen. Bens Freundin Rebecca möchte beim ersten Anruf sogleich in Erfahrung bringen, wie es sich "unter den Erleuchteten" lebt.
In Sachen Erleuchtung tauchen dann aber hin und wieder Fragezeichen auf, die der Autor auf seine ganz besondere Weise sehr pointiert komponiert hat. Auch den grauen Alltag im Kloster kleidet Andreas Heidtmann mitunter in heitere Gewänder, wenn er sich zum Beispiel das Tischgebet vornimmt. Ben hofft, jenes nie aufsagen zu müssen, da er sich mehrere Strophen niemals merken könnte. "Allenfalls die Zeilen eines Songs wie Me and Bobby McGee" könnte er mühelos zum Vortrage bringen.
Einer gewissen Komik entbehrt es ebenfalls nicht, wenn Gebete als Konsequenzen für kleine und große Verfehlungen und Vergehen eingesetzt werden. Aber:
"Wer so gläubig war, dass er ein Gebet nicht als Strafe empfand, der konnte unter den Padres glücklich werden."
Kleine Breitseiten sind das, und sie sind groß an der Zahl. Ans Eingemachte kann es dann aber auch gehen. Ein Besuch bei seiner Mutter ist angesagt und hier zieht Andreas Heidtmann andere Register. Bens Vater, sein Bruder Paul und Tante Marie finden wenig Worte. Lediglich Cousine Heike kann eine Art Kontakt herstellen. Ben ist sich aber sicher, dass die Mundwinkel seiner Mutter "zur Andeutung eines Lächelns fähig waren".
Wie der Autor Themen wie Krankheit, Abschied, Desillusionierung, Lebensentwürfe, Frömmigkeit, Religion, Freundschaft, Familie, Neid, Missgunst, Leidenschaft, Trauer, Humor oder Empathie miteinander verknüpft, sucht seinesgleichen und ist des Lesens jede Minute wert. Seite für Seite. Selbst das nicht Gesagte, das aus guten Gründen Verschwiegene, wird notiert und dokumentiert.
Musikalische Randnotizen zeigen ebenfalls eine herzerfrischende, fast schräge, Bandbreite, denn Herrschaften wie Michael Holm, Deep Purple, Keith Jarret oder Yehudi Menuhin passen normalerweise nicht unter einen Hut.
Wie war das nochmal in den 1970er Jahren mit diesen unsäglichen Kassettenrekordern? Man spulte doch öfter mal zurück, um gewisse Passagen einfach nochmal zu hören. Mit "Bei den minderen Brüdern" geht es einem irgendwie ähnlich. Als Beispiel hierfür sei jene Passage erwähnt, die man sogar gerne immer wieder lesen möchte:
Eben noch auf der Orgelbank gesessen, hat Ben nach dem Spielen einer Toccata gewisse Schwierigkeiten, sich wieder in der Realität, dort, "wo die Menschen Eile und Sehnsucht kannten", zu bewegen. Wieder auf "der Erde gelandet", kommt er sich
"wie ein vergessener Held vor, der sich im praktischen Leben zurechtfinden sollte und nicht wusste, ob seine Mission noch gültig war."
Andreas Heidtmanns autofiktionale Geschichte ist eine permanente Einladung zum Verweilen in Worten und Zeilen. Sie lädt ein zum Rückblick in jene unruhigen Tage des Loslassens überkommener Strukturen und der Suche nach einer Orientierung irgendwohin. Sie erinnert auch und vor allem an jene innere Stimme, die wie ein "Chor" klingt,
"dem die Einigung auf ein gemeinsames Stück misslingt."
Eine Geschichte als Bildnis eines jungen Mannes, der auf dem Weg ist. Der Zusammenbruch alter Gefüge und die Auferstehung aus Ruinen.
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